Georg Muche (1895–1987)
Bild mit dem Gittermotiv in der Mitte, 1919
Öl auf Leinwand
138,5 x 95 cm
Standort
Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin
1966 erworben durch das Land Berlin
Inventarwert: 18.000 DM
Bezeichnung Vorderseite / Sichtfläche
unten rechts: Gmuche / 1919
Inventarnummern
Staatliche Museen zu Berlin: B 842
Inventar Land Berlin: 842/8
Weitere Nummern: 842/68
Werkverzeichnis-Nummer
Droste WV M54
1932 bis 1955 Heinrich Evert, Berlin, erworben vom Künstler Q5 Q7
1955 bis 1966 Gertrud Evert, Berlin, per Erbschaft Q1 Q4 Q8 Q9
1966 bis 1968 Galerie des 20. Jahrhunderts, Berlin, erworben von Gertrud Evert, Teil des Schenkungskonvoluts Sammlung Evert, Nr. 8 Q1
seit 1968 als Dauerleihgabe des Landes Berlin in der Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
Die Galerie des 20. Jahrhunderts besaß elf Gemälde, Zeichnungen und Druckgraphiken der 1910er- bis 1930er-Jahre von Georg Muche. Bis auf das Bild „Sommer“ und ein weiteres (ohne Titel), das sich heute im Bauhaus-Archiv befindet, stammen sie alle aus der Sammlung Heinrich Evert, die 1966 durch Vermächtnis seiner Witwe Gertrud in die Galerie gelangte.
Heinrich Evert (Hannover 1879–1955 Berlin) sammelte in den 1920er- bis 1950er-Jahren Werke deutscher Künstler der Moderne. Ausgebildet an der hannoverschen Kunstgewerbeschule und der Baugewerkschule in Buxtehude sowie den Technischen Hochschulen in Berlin und Hannover hatte er seine Laufbahn im öffentlichen Dienst 1905 als Abteilungsleiter der Hochbauabteilung beim Stadtbauamt Jena begonnen. 1910 wurde er zum Stadtbaurat in Jauer (Jawor, heute Polen) berufen, wo er von 1927 bis 1934 auch das Amt des Bürgermeisters bekleidete. In seiner Zeit dort setzte Evert sich vor allem für kulturelle und soziale Belange ein und wirkte am modernen Siedlungsbau mit. Nach Januar 1933 geriet er „als Nichtparteigenosse und Freimaurer“, wie er sich selbst bezeichnete,Q13 ins Visier der NSDAP; im Oktober 1934 legte er sein Amt in Jauer nieder und siedelte nach Berlin um. Hier war er von 1936 bis 1945 als kommunaler Berater der Wehrkreisverwaltung III tätig und wurde 1946 zum Bezirksrat und Leiter der Abteilung für Bau- und Wohnungswesen im Bezirksamt Berlin-Wilmersdorf berufen. Ab 1951 wirkte Evert als Bezirksstadtrat. Bis zu seinem Tod 1955 wohnte er in der Rudolstädter Strase 100 in Wilmersdorf.
Seine Leidenschaft für aktuelle Kunst ließ Heinrich Evert den Kontakt zu Künstlern seiner Zeit suchen. Durch die Nähe der Stadt Jauer zu Breslau hatte er eine besondere Verbindung zur Breslauer Akademie: Zahlreiche dort tätige Kunstschaffende, darunter Oskar Moll und Georg Muche, waren – oft mit mehreren Werken – in seiner Sammlung vertreten. Hinzu kamen Arbeiten von Kurt Schwitters, Otto Mueller, Alexander Camaro, Karl Schmidt-Rottluff, Werner Heldt und zahlreichen anderen, mit denen den Sammler vielfach eine oft langjährige Freundschaft verband. Die Werke für seine Sammlung erwarb Heinrich Evert zum größten Teil direkt bei den Künstlern.
Auch Adolf Jannasch kannte Evert persönlich, wie der Eintrag in Jannaschs Sammler-Notizbuch belegt: „Evert / ‚Bauen und Wohnen‘ / Schwitters, Heldt, Moderne, Müller, Muche, Camaro“.Q12 Diese Bekanntschaft mag Everts Beschluss, der Galerie seine Sammlung anzuvertrauen, bekräftigt haben. So legte der kinderlose Baurat testamentarisch fest: „Ich setze als Erben meiner gesamten Kunstgegenstände (Gemälde, Graphiken, Plastiken, Sammelmappen, kunstgewerbliche Gegenstände und einschlägige Literatur) das Land Berlin ein. Für die Betreuung dieser Kunstwerke soll die Galerie des XX. Jahrhunderts zuständig sein.“ Diesem Wunsch folgend, hinterlies seine Witwe Gertrud Evert, geborene Fangauf, mit ihrem Tod 1966 dem Land Berlin 117 Gemälde, Zeichnungen und graphische Blätter.Q4 Vereinzelte Werke scheint Heinrich Evert auch dem Stadtmuseum Berlin vermacht zu haben.
Mit Georg Muche pflegten Heinrich und Gertrud Evert lange Jahre eine persönliche Bekanntschaft. In einer Akte zu Muche aus dem Otto-Nagel-Haus in Berlin (Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, ONH 123) finden sich Kopien kleiner Kontaktabzüge, offensichtlich aus einem Fotoalbum Muches. Die Fotografien tragen die von Muche handschriftlich notierte Überschrift „In Jauer, Sammler Ebert [sic]“, und dokumentieren einen (vielleicht ersten) Besuch in Everts Familienhaus mit Garten. In der 1961 publizierten Autobiografie Muches wird Evert im Kapitel „Der größte Sammler“ beschrieben: „Mein Freund Heinrich Evert, der Bürgermeister in einer stillen schlesischen Stadt war, kaufte dann und wann ein Bild, weil er eine große Liebe zu dem geheimnisvollen Leben hatte, das sich in Bildern offenbart. Er sah in ihnen das Gleichnis einer geistigen Ordnung, und jedes Bild in seiner Sammlung war für ihn ein Zeichen der Begegnung mit einem der seltsamen Menschen, die Bilder malen“.L4 Im Berliner Bauhaus-Archiv sowie im Deutschen Kunstarchiv in Nürnberg hat sich Korrespondenz zwischen den Eheleuten Evert und Muche erhalten. Zu Kriegszeiten verfasste Muche gar ein Testament, in dem er das kinderlose Ehepaar Evert als Erben seines künstlerischen Nachlasses einsetzte (Deutsches Kunstarchiv, NL Muche, Georg, 6.9.1939). Gertrud Evert pflegte auch über den Tod ihres Gatten hinaus freundschaftlichen Briefwechsel mit Muche (vgl. Korrespondenz ebd., NL Muche, Georg, I,C-183), oft aus Anlass externer Leihanfragen von Muche-Werken aus der Sammlung Evert.Q8 Q9
Über seinen Vater war Muche früh in Kontakt mit Kunst gekommen: Felix Muche (später Felix Ramholz, 1868–1947) war ein „Sonntagsmaler“ und Sammler moderner Kunst, der Werke von Pablo Picasso, Marc Chagall, Paul Klee, Wassily Kandinsky, Franz Marc und Jean Metzinger besaß. Georg Muche, der 1920 (mit 25 Jahren) als jüngster Lehrer ans Weimarer Bauhaus kam, hatte sich zunächst im Umfeld von Herwarth Waldens Der Sturm und der Novembergruppe in der Hauptstadt bewegt. Beeindruckt von der Kunstlehre Johannes Ittens am Bauhaus, ging er 1927 zum Unterrichten an dessen in Berlin gegründete Kunstschule. 1931 nahm Muche eine Professur an der Akademie in Breslau an, wurde mit Einsetzen des NS-Regimes jedoch entlassen. Erneut in Berlin, unterrichtete er bis 1938 an Hugo Härings privater Kunstschule, bevor er 1939 an die Textilingenieurschule Krefeld wechselte, wo er bis 1958 blieb. 1943 verlor er einen großen Teil seiner Arbeiten durch die Bombardierung seiner Wohnung.
Zahlreiche Dokumente belegen, dass sich das „Bild mit dem Gittermotiv in der Mitte“ bereits vor der NS-Zeit in Everts Besitz befand. 1932 schrieb Muche an Evert: „Über Ihren Entschluss, das große Bild zu erwerben, bin ich froh. Es hängt in dem Zimmer an einem guten Platz. Unterdessen ist das Geld hier eingetroffen.“Q7 Dabei kann es sich, alle Kontexte berücksichtigend, schwerlich um ein anderes Bild als das vorliegende gehandelt haben. 1947 nennt ein weiterer Brief Muches das Bild namentlich als Eigentum Heinrich Everts,Q6 und auch 1953 findet es Erwähnung: „Galerie Lutz u. Meyer Stuttgart schrieb mir, sie habe das ‚Bild mit dem Gittermotiv‘ erworben, das in meinem Buch abgebildet sei – also Deines. Wird eine Verwechslung sein.“Q11
Ein interessantes Detail bietet der rückseitige Aufkleber der Galerie Neue Kunst Hans Goltz in München. Hans Goltz (1873–1927) führte 1911 bis 1927 eine Buch- und Kunsthandlung in München (vgl. www.bad-bad.de/hansgoltz/main.htm, letzter Zugang 19.11.2015). Er starb 1927 unerwartet. Unter den über 160 bis dahin von ihm veranstalteten Ausstellungen moderner Kunst war keine Schau zum Werk Georg Muches, aber es gab Ausstellungen zu Bauhaus-Künstlern, bei denen Muche womöglich vertreten war. Es ist anzunehmen, dass das „Bild mit dem Gittermotiv“ sich vor 1927 zeitweise als Kommissions- oder Ausstellungsware bei Goltz befand. Ein Nachlass der Galerie ist nicht erhalten. Der Enkel Michael Goltz äußerte in einem Interview (vgl. Website) die Vermutung, dass die Galerie Hans Goltz 1927 Opfer von avantgarde-feindlichen Säuberungen war.
1973 schenkte Georg Muche der Nationalgalerie, in deren Sammlung sich bereits fünf seiner Ölbilder aus der ehemaligen Galerie des 20. Jahrhunderts befanden, fünf weitere Gemälde, darunter „Das kleine Bild mit dem Gittermotiv“ von 1917 (Nationalgalerie A IV 286).
Recherche: CT | Text: CT
Rückseite vollflächig bemalt mit bunter Komposition [glasfensterartig] von 1915
Leinwand oben Mitte: Bild / mit dem Gittermotiv / in der Mitte 1916 / Gmuche
Außenrahmen oben links: Aufkleber (Typ Garderobenmarke) mit Nr.: 24 [letzte Ziffer unleserlich]
Außenrahmen oben Mitte, Stempel: G. Evert / Berlin-Wilmersdorf / Rudolstädter Str.; handschriftlich: Evert – Berlin
Keilrahmen oben Mitte, Signatur: Gmuche 1916
Keilrahmen oben Mitte: Aufkleber der Galerie des 20. Jahrhunderts
Keilrahmen oben rechts, Aufkleber The Montreal Museum of Fine Arts: German Exhibition / Box No. 13-1
Mittelsteg, handschriftlich, rot: N.5
Mittelsteg, verblichen, unleserlich: Aufkleber Große Berliner Kunstausstellung
Mittelsteg rechts, unten abgerissen: Aufkleber Galerie Neue Kunst Hans Goltz
Q1 Inventarverzeichnis für Kunstwerke Berlins in der Nationalgalerie B 3000/306 [Inventar der Galerie des 20. Jahrhunderts (West)], 2 Bde., 1949–1982, Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten, Berlin, erworben Juni 1966
Q2 Liste der Kunstwerke, die am 6.6.1968 aus dem Depot der Galerie des 20. Jahrhunderts an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz übergeben wurden, o. D., Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, Bl. 2 (Depot F)
Q3 Liste Platten – Kasten III, Galerie M–R, Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, Ordner B: Vereinigte Kunstsammlungen
Q4 Erbvertrag zwischen Gertrud Evert und dem Land Berlin, 1.8.1957, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 04-0601-02-010.1 ff.
Q5 Leihkorrespondenz, Akten zur Ausstellung „Die Maler am Bauhaus“, 1951, Berlin (zuvor München und Düsseldorf), Landesarchiv Berlin, B Rep. 014-1747 [Heinrich Evert, Bezirksrat Berlin-Wilmersdorf, Rudolstädter Str. 119 als Leihgeber von „Gitterbild“]
Q6 Brief Georg Muche an Heinrich Evert, 9.5.1947, Deutsches Kunstarchiv Nürnberg, NL Muche, Georg, I,C-183
Q7 Brief Georg Muche an Heinrich Evert, 25.11.1932, Deutsches Kunstarchiv Nürnberg, NL Muche, Georg, I,C-183
Q8 Brief Eberhard Roters an Gertrud Evert, 8.4.1960, Ausstellungsakte „Ort der Freiheit für die Kunst“, Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, II/VA 6828
Q9 Brief Georg Muche an Leopold Reidemeister, 5.4.1960, Ausstellungsakte „Ort der Freiheit für die Kunst“, Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, II/VA 6829
Q10 Brief Georg Muche an Heinrich Evert, 20.5.1950, Deutsches Kunstarchiv Nürnberg, NL Muche, Georg Mappe 266
Q11 Brief Georg Muche an Heinrich Evert, 31.1.1953, Deutsches Kunstarchiv Nürnberg, NL Muche, Georg, Mappe 266
Q12 Sammler-Notizbuch Adolf Jannasch, Privatbesitz
Q13 Lebenslauf Heinrich Evert, 14.10.1945, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 02-0204-02-000
Q14 Protokoll für notarielle Beurkundungen, Amtsgericht Berlin-Charlottenburg, 1.8.1958, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 04-0601-02-000
L1 Verzeichnis der Vereinigten Kunstsammlungen: Nationalgalerie (Preußischer Kulturbesitz) und Galerie des 20. Jahrhunderts (Land Berlin), hrsg. von den Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz, Berlin 1968, S. 151
L2 Die Maler am Bauhaus, Ausst.-Kat. Haus der Kunst München (2. Station Schloss Charlottenburg Berlin), München 1950, Nr. 206, Abb. S. 25 (keine Angaben zu Besitzer beim Werk, aber „Herr H. Evert, Berlin“ als Leihgeber auf S. 49 aufgezählt)
L3 Magdalena Droste u. a. (Hrsg.), Georg Muche. Das künstlerische Werk 1912–1927. Kritisches Werkverzeichnis der Gemälde, Zeichnungen, Fotos und architektonischen Arbeiten, Ausst.-Kat. Bauhaus-Archiv Berlin 1980, Nr. M 54 („erworben 1966 als Geschenk Heinrich Evert Berlin“, mit Abb. der Vorder- und Rückseite)
L4 Georg Muche, Blickpunkt. Sturm Dada Bauhaus Gegenwart, München 1961, S. 223 f.