Die Galerie des 20. Jahrhunderts in West-Berlin
Ein Provenienzforschungsprojekt


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Henri Laurens (1885–1954)
Hockende Frau, 1922

Kalkstein

Standort
Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin

1966 erworben durch das Land Berlin
Ankaufspreis: 98.400 DM

Weitere Werkdaten

Abweichende Titel
Femme accroupie; Sitzende Frau

Bezeichnung Vorderseite / Sichtfläche
unbezeichnet

Inventarnummern
Staatliche Museen zu Berlin: B 798
Inventar Land Berlin: 798

Foto: Ziehe, Jens / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016
Provenienz
1922 bis 1966 Galerie Louise Leiris, Paris, erworben vom Künstler L1 Q1 Q5 Q6
1966 Galerie Michael Hertz, Bremen, vermittelt für die Galerie Leiris Q5
1966 bis 1968 Galerie des 20. Jahrhunderts, Berlin, erworben über die Galerie Hertz Q1
seit 1968 als Dauerleihgabe des Landes Berlin in der Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
Im Jahre 1965 bot der Bremer Galerist Michael Hertz Adolf Jannasch, dem Leiter der Galerie des 20. Jahrhunderts (West), diese Steinskulptur einer Hockenden an. Daraufhin schrieb Jannasch an Daniel-Henry Kahnweiler, Inhaber der Galerie Louise Leirisin Paris, um sich die Eigenhändigkeit des Werkes bestätigen zu lassen. Die Erläuterung, die er als Antwort erhielt, gab zusätzlich eindeutige Auskunft über die Provenienz der Skulptur: „Laurens hat bei allen seinen Stein-Skulpturen zuerst den Block von einem ‚Practicien‘ roh hauen lassen. Man heisst das auf französisch ‚dégrossir‘. Nachher hat er stets den Stein selbst vollendet. Sie dürfen ja nicht vergessen, dass Laurens gelernter Steinmetz war. Das Werk, das Sie meinen, ‚Femme accroupie‘, 1922, habe ich in eben diesem Jahre, sofort nach seiner Vollendung, von ihm erworben. Es gibt keine Steine von Laurens, die nach einem Bozzetto angefertigt wurden. Alle existierenden Steine sind sein eigenes Werk. Sein Sohn, der Architekt Claude Laurens, würde nie eine Fälschung zulassen.“Q5 Jannaschs Bitte, das Werk zur Ansicht nach Berlin gesandt zu bekommen, wurde entsprochen, wie ein Schreiben Hertz’ vom 24. Januar 1966 zeigt: „Dr. Kahnweiler hat sich auf Ihren Wunsch hin bereit erklärt, den Laurens-Stein nach Berlin zu senden.“Q5 Am 3. März bestätigte Hertz dann: „Sie erhalten im Namen und für Rechnung der Galerie Louise Leiris, Paris […] eine Skulptur von Henri Laurens, Femme accroupie, 1922, DM 98.400“.Q5

Bereits einige Jahre zuvor hatte Michael Hertz sich für Kahnweiler nach potenziellen Käufern seiner Laurens-Skulpturen umgehört. 1961 schickte er Leopold Reidemeister, damals Direktor der Nationalgalerie in Berlin, den Katalog einer Laurens-Ausstellung im Kunsthaus Zürich zu und pries ihm drei Katalognummern daraus zum Verkauf an: „Die nach meiner Auffassung hochbedeutenden Steine Nrs. 4, 7 und 11 beispielsweise gehören der Galerie Louise Leiris, und falls sie dabei an Ihre Sammlung denken, so gebe ich Ihnen gerne nähere Auskunft“.Q6 L2 Reidemeister lehnte den Kauf ab. Katalognummer 11 war die „Hockende Frau“, die Jannasch fünf Jahre später für die Galerie des 20. Jahrhunderts erwarb.

Trotz des hohen Ankaufspreises waren zu jener Zeit einige Museen in Deutschland, die versuchten, ihren Bestand der Moderne um Werke des französischen Kubismus zu bereichern, an der Skulptur interessiert. Ein Schreiben Kahnweilers vom Oktober 1965 verdeutlicht dies: „Der Laurens Stein […] gehört zu den bedeutendsten Werken innerhalb der Skulptur des Kubismus. Ohne das tragische Ereignis des Todes von Dr. Heinz Köhn [der 1962 das Werk erwerben wollte] wäre es auch nicht mehr erreichbar, sondern befände sich im Museum Folkwang in Essen.“Q5 Sicherlich trug auch die Provenienz Kahnweiler zur Aufwertung von „Hockende Frau“ bei.

Daniel-Henry Kahnweiler, ein deutsch-französischer Kunsthistoriker, der sich 1907 als Galerist in Paris selbstständig machte, war der wichtigste Vertreter der Kubisten. Er hatte Exklusivverträge mit André Derain, Georges Braque und Maurice de Vlaminck, später kamen Fernand Léger, Henri Laurens, Juan Gris, André Masson, Paul Klee und andere hinzu. Von 1907 bis 1920 firmierte er als Galerie Kahnweiler, von 1920 bis 1940 unter dem Namen Galerie Simon, ab 1940 bis 1979 unter dem Namen seiner Schwägerin, Louise Leiris. Die Bestände der Galerie konnte er über den Zweiten Weltkrieg durch Verlagerungen sichern. Der Kontakt zu Laurens war 1920 zustande gekommen: Nachdem Kahnweiler während des Ersten Weltkriegs einen Bericht über dessen Kunst gelesen hatte, suchte er ihn bei Rückkehr nach Paris umgehend auf. Im selben Jahr wechselte Laurens von der Galerie Léonce Rosenberg zu einer Vertretung bei Kahnweiler (Galerie Simon); es entstand eine Freundschaft zwischen Händler und Künstler. Kahnweiler kaufte Laurens’ Werke, veranstaltete jedoch bis 1945 keine Laurens-Ausstellung (vgl. z. B. Die Sammlung Kahnweiler. Von Gris, Braque, Léger und Klee bis Picasso, hrsg. von Hans Albert Peters, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Düsseldorf, München 1994, S. 182 ff.).

Daniel-Henry Kahnweiler besaß auch eine beachtliche private Kunstsammlung, darunter viele Geschenke von Künstlern und kleinformatige Werke. Anders als andere Kunsthändler trennte er Privatsammlung und Galerieware recht klar: „Wenn ich mich aber einmal für ein Bild entschieden habe, trenne ich mich nicht mehr davon, um nichts auf der Welt“ (Daniel-Henry Kahnweiler, Meine Maler – meine Galerien, Köln 1961, S. 75 f.). In einem Katalog, der die Sammlung Daniel-Henry Kahnweiler rekonstruiert (vgl. Ausst.-Kat. Düsseldorf 1994), ist „Hockende Frau“ nicht aufgeführt – es ist also anzunehmen, dass die Skulptur durchgängig Galerieware war. Diese Vermutung wird auch durch Spuren am Werk selbst bestätigt: Ein Aufkleber auf der Standfläche der „Hockenden“ ist stark abgewetzt, lässt aber den Schriftzug der Galerie Simon erkennen.(Aufkleber) Da Kahnweiler nur bis 1940 unter diesem Namen agierte, muss die Skulptur in jener Zeit bereits bei ihm gewesen sein.

Der Bremer Kunsthändler Michael Hertz unterhielt enge Beziehungen nach Frankreich. 1949 hatte er Kahnweiler kennengelernt und einen Exklusivvertrag für Graphik Pablo Picassos in Deutschland mit ihm ausgehandelt. In seiner Bremer Galerie vertrat Hertz Laurens, dazu André Masson, Joan Miró, Pablo Picasso, Alexander Calder, Max Ernst und andere. Vielfach agierte Hertz als Vermittler von Ankäufen. Der Galerist war entfernt verwandt mit Rudolf Springer, Kunsthändler in Berlin, der ebenfalls seit den frühen 1940er-Jahren enge Verbindungen nach Frankreich hatte und mit Kahnweiler bekannt war. Springer veranstaltete 1953 die erste Laurens-Ausstellung in Berlin.

Recherche: CT | Text: CT

auf der Standfläche, Aufkleber (stark abgewetzt) der Galerie Simon, Paris, mit Nummer: 7076; zwei eingemeißelte Symbole, evtl. „9“, unterstrichen

Rückseite
Foto: Kilger, Andres
Rückseite Aufkleber Galerie Simon
Foto: Kilger, Andres

Q1 Inventarverzeichnis für Kunstwerke Berlins in der Nationalgalerie B 3000/306 [Inventar der Galerie des 20. Jahrhunderts (West)], 2 Bde., 1949–1982, Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten, Berlin, Eintrag vom 6.2.1966

Q2 Protokoll der Übergabe der Bestände der Galerie des 20. Jahrhunderts an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz [Gemälde und Skulpturen aus den Verwaltungs- und Ausstellungsräumen der Galerie], 5.6.1968, Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, S. 3

Q3 Protokoll der Ankaufskommission, 17.2.1966, Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, II/VA 6754, Bl. 349

Q4 Protokoll der Ankaufskommission, 25.11.1965, Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, II/VA 6754, Bl. 352

Q5 Daniel-Henry Kahnweiler (Galerie Louise Leiris) an Adolf Jannasch, 21.10.1965 und 7.12.1965; Korrespondenz zwischen Adolf Jannasch und Michael Hertz, Rechnung, Transport- und Zollpapiere, 1965/66, Zentralarchiv des internationalen Kunsthandels, Köln, Bestand Hertz A013_IV_34 (2/2)

Q6 Brief Michael Hertz an Leopold Reidemeister, 10.7.1961, Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, II/VA 6850 (Sturm-Akten)

L1 Verzeichnis der Vereinigten Kunstsammlungen: Nationalgalerie (Preußischer Kulturbesitz) und Galerie des 20. Jahrhunderts (Land Berlin), hrsg. von den Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz, Berlin 1968, S. 353

L2 Henri Laurens. Skulpturen, Collagen, Zeichnungen, Ausst.-Kat. Kunsthaus Zürich 1961, S. 19, Nr. 11 („Femme accroupie, 1922, Galerie Louise Leiris, Paris“)