Die Galerie des 20. Jahrhunderts in West-Berlin
Ein Provenienzforschungsprojekt


zurück

André Masson (1896–1987)
L‘Aile (Der Flügel), 1925

Öl auf Leinwand
55 x 38 cm

Standort
Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin

1965 erworben durch das Land Berlin
Ankaufspreis: 24.000 DM

Weitere Werkdaten

Abweichende Titel
L'aile

Bezeichnung Vorderseite / Sichtfläche
unbezeichnet

Inventarnummern
Staatliche Museen zu Berlin: B 790
Inventar Land Berlin: 790
Weitere Nummern: 65/790

Werkverzeichnis-Nummer
Masson/Loewer WV 1925.1

Foto: Anders, Jörg P. / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016
Provenienz
frühestens 1925 bis maximal 1940 Galerie Simon (Daniel-Henry Kahnweiler), Paris L4 Q1 Q7 (Aufkleber)
spätestens ab 1940 André Breton, erworben bei der Galerie Simon Q7 L4 (Aufkleber)
Simone Collinet, Paris, übernommen aus der Sammlung André Breton L2 L3 Q7 L4
um 1964 bis 1965 Galerie Michael Hertz, Bremen Q7 Q1
1965 bis 1968 Galerie des 20. Jahrhunderts, Berlin, erworben bei der Galerie Hertz Q1 Q5 Q7
seit 1968 als Dauerleihgabe des Landes Berlin in der Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
„[…] ein Bild, dessen Pedigree gar nicht besser sein kann“, schwärmte der Bremer Galerist Michael Hertz in einem Brief an Adolf Jannasch vom 1. September 1965. „D. H. Kahnweiler (Galerie Simon) – André Breton – Simone Collinet (frühere Frau Bretons).“Q7 Das Angebot, das er Adolf Jannasch am 25. August 1965 zum Ankauf des Gemäldes unterbreitet hatte, war nicht weniger enthusiastisch ausgefallen: „Für meine Galerie habe ich jüngst erworben das malerisch exquisite ‚L’aile‘ – 1925 (Kat. Nr. 7) aus der Inkunabelzeit des Surrealismus, als Qualität eine Occasion […]. Der Preis beträgt DM 24.000,-“.Q7 Dabei musste Jannasch kaum noch von der Qualität des Bildes überzeugt werden: Bereits 1964 hatte er Versuche unternommen, es von Hertz für die Galerie des 20. Jahrhunderts zu erwerben.Q8

Die Provenienz von „L’Aile“ wird teilweise durch Spuren auf der Rückseite bestätigt: Ein Aufkleber der Galerie Simon belegt, dass sich das Werk in den 1920er/30er-Jahren bei ihrem Leiter Daniel-Henry Kahnweiler befunden haben muss, da die Galerie 1940 ihren Namen wechselte (Aufkleber). Bei der darauf verzeichneten Nummer 10623 könnte es sich um eine der sogenannten Photonummern handeln, anhand derer Massons Werke in einem eigens für ihn angelegten „Cahier d’archives“ der Galerie Simon verzeichnet wurden (freundliche Auskünfte von Guite Masson, Comité André Masson, Paris, 9.1.2012 und 28.1.2012). Ein Aufkleber mit der Aufschrift „Anciennce collection André Breton“ bestätigt die ehemalige Zugehörigkeit zur Sammlung Breton (Rückseite).

Zwischen Masson und Kahnweiler bestand eine enge Beziehung. Ursprünglich aus Mannheim stammend, war Kahnweiler (1884–1979) 1907 nach Paris übergesiedelt, wo er sich rasch als zentraler Kunsthändler der Kubisten etablierte. Nachdem er im Ersten Weltkrieg die Schließung der Galerie und die Zwangsversteigerung seines Kunstbesitzes hatte erfahren müssen, firmierte er von 1920 bis 1940 als Galerie Simon, ab 1940 dann unter dem Namen seiner Schwägerin, Louise Leiris. 1922 lernten sich Kahnweiler und André Masson, der mit Kahnweilers Schwippschwager Michel Leiris befreundet war, auf Anregung von Élie Lascaux persönlich kennen und schlossen im selben Jahr einen exklusiven Vertretungsvertrag. 1924 gab es eine erste Masson-Ausstellung in der Galerie Simon, es folgten zahlreiche weitere. Kahnweiler förderte Masson massiv, als Maler, Graphiker und Illustrator, und es ist ihm zuzuschreiben, „dass Masson in relativ großem Stil sowohl in New York bei Pierre Matisse und in der Curt Valentin Gallery als auch in London in der Mayor Gallery und schließlich in Deutschland in den vier Flechtheim-Galerien eingeführt wurde“ (Die Sammlung Kahnweiler, hrsg. von Hans Albert Peters, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Düsseldorf, München 1994, S. 166 ff.). Er vermittelte Masson an große Sammler, darunter Paul Rosenberg, und blieb bis 1934, als ein zweiter Vertrag mit Georges Wildenstein unterzeichnet wurde, der wichtigste Repräsentant des Künstlers.

Der Schriftsteller André Breton (1896–1966) heiratete seine erste Frau Simone (geb. Kahn) im Jahr 1921. Breton war ein leidenschaftlicher Sammler von moderner bis ozeanischer Kunst, Büchern, Fotos, Manuskripten, Bibliophilia und anderem. Seine Wohnung in der Rue Fontaine 42 in Paris, in der er seit 1922 mit Simone lebte, beherbergte zahllose Kunstwerke, darunter Gemälde, Zeichnungen und Skulpturen. 1931 musste Breton aufgrund einer privaten finanziellen Krise einen Großteil seiner Kunstsammlung versteigern (gemeinsam mit Paul Éluard), baute die Sammlung aber anschließend neu auf. Nach seinem Tod 1966 kämpften Bretons dritte Frau Elisa (geb. Claro) und die Tochter Aube (aus der zweiten Ehe mit Jacqueline Lamba) erfolglos um eine Überführung der Sammlung in eine Stiftung.

Simone Collinet (geb. Kahn, 1897–1980), Tochter aus einer wohlhabenden Industriellenfamilie in Paris, war Breton 1919 begegnet. Seit 1924 arbeitete sie für ihren Mann im Büro für surrealistische Forschungen. Aufgrund seiner notorischen Untreue wurde die Ehe 1929 geschieden, die Trennung spaltete das Lager der Surrealisten, von denen sich einige mit Simone solidarisierten. Bei Einmarsch der NS-Truppen in Paris musste Simone Breton wegen ihrer jüdischen Wurzeln untertauchen. 1938 hatte sie den politisch engagierten Intellektuellen Michel Collinet geheiratet; nach Kriegsende kehrte sie nach Paris zurück, wo sie sich 1948 als Galeristin selbstständig machte. Wann und in welchem Rahmen Collinet „L’Aile“ übernahm, ist nicht bekannt, doch die Herkunft des Gemäldes aus dem früheren Besitz Bretons ist sicher. Teile der Sammlung Breton gingen in den Besitz von Simone Collinet über; sie besaß bis in die 1960er-Jahre auch zahlreiche Masson-Werke.

Recherche: CT | Text: CT

Leinwand oben, Signatur: André Masson
Keilrahmen oben rechts, teils abgerissener Aufkleber der Galerie Simon, Paris, mit Nummer: 1062[3]
Keilrahmen oben Mitte, Ausstellungsaufkleber Kunsthalle Basel mit Nummer: 2870
Keilrahmen oben rechts, Aufkleber: Anciennce collection André Breton
Keilrahmen links Mitte, Aufkleber der Pariser Speditionsfirma International Art Transport mit Nummer: K.29
Keilrahmen Querstrebe Mitte: Ausstellungsaufkleber „La Grande Aventure de l’Art du XX.e Siècle“, Château de Rohan, Strasbourg, 1963, mit Kat.-Nr. 105; Aufkleber Surrealismus-Ausstellung Paris 1972
Keilrahmen rechts Mitte, Ausstellungsaufkleber [nach 1965] mit Kat.-Nr.: 277
Keilrahmen unten rechts: Aufkleber der Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin

Rückseite Aufkleber Galerie Simon
Foto: Zentralarchiv, Staatliche Museen zu Berlin
Rückseite Aufkleber Breton
Foto: Zentralarchiv, Staatliche Museen zu Berlin

Q1 Inventarverzeichnis für Kunstwerke Berlins in der Nationalgalerie B 3000/306 [Inventar der Galerie des 20. Jahrhunderts (West)], 2 Bde., 1949–1982, Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten, Berlin, Eintrag vom 24.11.1965

Q2 Protokoll der Übergabe der Bestände der Galerie des 20. Jahrhunderts an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz [Gemälde und Skulpturen aus den Verwaltungs- und Ausstellungsräumen der Galerie], 5.6.1968, Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, S. 3

Q3 Protokoll der Ankaufskommission, 25.11.1965, Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, II/VA 6754, Bl. 352

Q4 Bestellzettel 460068 vom 17.9.1965, Galerie des 20. Jahrhunderts an Haberling für den Transport vom Flughafen in die Jebensstraße, Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, II/VA 6841, Bl. 34

Q5 Erwerbsbestätigung (für Zollamt) vom 14.12.1965, Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, II B/Galerie des 20. Jahrhunderts – Land Berlin 2, Bl. 9

Q6 Liste Platten – Kasten III, Galerie M–R, Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, Ordner B: Vereinigte Kunstsammlungen

Q7 Korrespondenz zwischen Michael Hertz und Adolf Jannasch, einschließlich Frachtpapieren, Empfangsbestätigung, Rechnung, 25.8.1965 ff., Zentralarchiv des internationalen Kunsthandels, Köln, Bestand Hertz A013_IV_34 (2/2), und Kopien in der Bildakte, Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie

Q8 Brief Adolf Jannasch an Michael Hertz, 4.7.1964, Zentralarchiv des internationalen Kunsthandels, Köln, Bestand Hertz A013_IV_34 (2/2)

L1 Verzeichnis der Vereinigten Kunstsammlungen: Nationalgalerie (Preußischer Kulturbesitz) und Galerie des 20. Jahrhunderts (Land Berlin), hrsg. von den Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz, Berlin 1968, S. 137

L2 André Masson. Gemälde und Zeichnungen aus den Jahren 1923 bis 1964, Ausst.-Kat. Michael Hertz Bremen 1965, Abb. S. 15 (ohne Besitzerangaben)

L3 André Masson, Ausst.-Kat. Musée national d’art moderne, Paris 1965, Nr. 14 („Collection Mme Simone Collinet, Paris“)

L4 Guite Masson, Martin Masson und Catherine Loewer (Hrsg.), André Masson. Catalogue raisonné de l’œuvre peint 1919–1941, Vaumarcus u. a. 2010, S. 250, Nr. 1925*1