Die Galerie des 20. Jahrhunderts in West-Berlin
Ein Provenienzforschungsprojekt


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Ernst Barlach (1870–1938)
Die Vision, 1912

Eichenholz
Sockelelement 40 x 57,5 x 37,5 cm; Retabel 79 x 98 x 19,7 cm; Skulptur gesamt 118 x 98 x 38 cm

Standort
Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin

1952 erworben durch das Land Berlin
Ankaufspreis: 18.000 CHF

Weitere Werkdaten

Abweichende Titel
Vision; Der Traum; Der Fliegende [oberer Teil]

Bezeichnung Vorderseite / Sichtfläche
unbezeichnet

Inventarnummern
Staatliche Museen zu Berlin: B 73
Inventar Land Berlin: 73
Weitere Nummern: 15/15

Werkverzeichnis-Nummer
Laur WV 176; Gielow WV 109; Schult WV 123

Foto: Friedrich, Reinhard / CC BY-NC-SA
Provenienz
1912 bis 1919 Paul Cassirer, Berlin L6 L7 L19 L23 L24
Oktober 1919 bis 1950 Hugo Simon, Berlin, Paris, Basel L18 Q5 L19 L23 Q8
1941 bis 1952 Verwahrung im Kunstmuseum Basel L18 Q5 L19 L23
1950 bis 1952 Gertrud Simon („Privatbesitz“) L19 L23 Q9
1952 bis 1968 Galerie des 20. Jahrhunderts, Berlin, erworben von Gertrud Simon, vermittelt durch Dr. Eckert, Basel Q1
seit 1968 als Dauerleihgabe des Landes Berlin in der Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
Das zweiteilige Holzrelief „Die Vision“, von Ernst Barlach ursprünglich als Grabmal für Theodor Däubler konzipiert, erwarb gleich nach seiner Fertigstellung 1912 der Verleger und Galerist Paul Cassirer, ein maßgeblicher Förderer Ernst Barlachs. 1907/08 hatte Cassirer einen Vertrag mit dem Künstler abgeschlossen, der die Überlassung seiner bildhauerischen Produktion gegen ein festes Entgelt beinhaltete.L20 L21 1917 richtete er dem Bildhauer eine Einzelausstellung im Kunstsalon Paul Cassirer aus, die Barlach erstmals jenen Rang des Erneuerers der Holzbildhauerei zusprach, mit dem er in die Kunstgeschichte eingegangen ist. Im Oktober 1919 verkaufte Cassirer „Die Vision“ für 30.000 Mark an seinen Finanzberater, den Kunstsammler Hugo Simon, der das Werk im Februar 1926 noch einmal als Leihgabe für eine Ausstellung bei Cassirer zur Verfügung stellte.L22

Der jüdische Bankier Hugo Simon (1880–1950) war seit 1911 Mitinhaber der Berliner Privatbank Bett, Simon & Co. Er saß im Aufsichtsrat zahlreicher Bau-, Finanz- und Produktionsunternehmen sowie zweier Verlage. Als Mitglied der SPD gehörte er zu Beginn des Ersten Weltkriegs zu den Gegnern der deutschen Kriegspolitik; er engagierte sich für pazifistisch-demokratische Ziele sowie für ökonomische und soziale Reformen. Simon war zudem bekannt als Kunstfreund, Mäzen und Sammler, in dessen Haus sich regelmäßig neben Wissenschaftlern und Politikern auch Künstler, Literaten und andere Kulturschaffende trafen. Als Mitglied der Ankaufskommission und des Vereins Freunde der Nationalgalerie nahm er zudem Einfluss auf die Erwerbspolitik des Berliner Museums.

Hugo Simons Exilweg ist unter anderem durch Materialien im Deutschen Exilarchiv in Frankfurt am Main (Nachlass 0210, EB 2005/063) belegt. Unmittelbar nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten zog er 1933 mit seiner Frau Gertrud (1885–1964) über die Schweiz nach Paris, wo er erneut ein Bankhaus gründete und sich politisch engagierte. 1937 ausgebürgert, gelang dem Ehepaar Simon im Juni 1940 die Flucht nach Marseille, von dort im Februar 1941 über Spanien und Portugal nach Brasilien. Hugo Simon starb 1950 in São Paulo. Seine umfangreiche Kunstsammlung wurde durch Emigration, Enteignung und Notverkäufe zerstreut. 1933 konnte er noch mehrere Kunstwerke ausführen, darunter viele Werke des deutschen Expressionismus und Arbeiten aus dem 19. Jahrhundert. Einzelne Konvolute wurden an verschiedenen Orten deponiert, andere Werke in der Schweiz und in Frankreich Kunsthändlern sowie Museen zum Verkauf angeboten. Etliche Kunstwerke blieben aber auch in Deutschland zurück und wurden zusammen mit weiterem Besitz Simons, wie sein Haus in Seelow und darin befindliche Güter, von den Nationalsozialisten konfisziert.

Das Relief „Die Vision“ gehörte zu einer Gruppe von Kunstwerken, die Simon zwischen September 1933 und November 1934 im Kunsthaus Zürich einlagern ließ. Sie verblieben dort bis 1938. Die Geschichte des Werkes legen Esther Tisa Francini, Anja Heuss und Georg Kreis ausführlich in ihrer Publikation „Fluchtgut – Raubgut. Der Transfer von Kulturgütern in und über die Schweiz 1933–1945 und die Frage der Restitution“L9 ausführlich dar: Um 1937/38 schrieb Simon an Wilhelm Wartmann, den Direktor des Kunsthauses Zürich: „Über die Verwertung meiner Sammlung werde ich Sie gerne informieren, sobald sich ein Resultat ergeben sollte; ich weiss ja wie sehr alle Dinge der Kunst Ihnen am Herzen liegen und so sind Sie sicher interessiert, welches Asyl mein Besitz eines Tages finden wird.“Q10 Teilweise verkaufte Simon die Werke aus Zürich ins Ausland. Das Barlach-Relief wurde jedoch dem Kunstmuseum Basel übergeben in der Hoffnung auf einen Ankauf durch das Museum. Dieses war am Erwerb verschiedener Werke aus der Sammlung Simon interessiert, insbesondere auch an Barlachs Relief „Die Vision“. In Erwartung solcher Erwerbungen wurde Simon von der Stadt Basel ein Kredit über 50.000 Schweizer Franken gewährt, der später mit dem Ankaufspreis verrechnet werden sollte. Dafür erhielt das Museum ein Optionsrecht auf die Werke. 1938 wurde das Relief als Leihgabe zur Ausstellung „Twentieth Century German Art“L17 in London gesandt, die als Gegenausstellung zur Münchner Schau „Entartete Kunst“ konzipiert war. Das Werk war dort als „verkäuflich“ gekennzeichnet, kehrte jedoch nach Ende der Laufzeit unveräußert in die Schweiz zurück.

Die weiteren Verkaufsverhandlungen mit Basel gestalteten sich schwierig: Die Ankaufskommission konnte sich nicht zum Erwerb des Reliefs entschließen, zum einen wegen des als zu hoch befundenen Preises, zum anderen aus Ablehnung der deutschen Moderne. Es erging also ein negativer Bescheid an Simon, das Finanzdepartment drängte auf Rückzahlung des Kredits und das Kunstmuseum Basel auf Auslösung des dort lagernden Sammlungsteils, da dieser sonst durch das Finanzdepartement gepfändet werde. Zähe Verhandlungen erwirkten einen zeitlichen Aufschub, man einigte sich auf eine Rückzahlung in vier Raten, die Simon jedoch nicht leisten konnte. Die Finanznot zwang ihn also zur Versteigerung seiner Werke, die im Juli 1939 das Luzerner Auktionshaus Fischer übernahm. Größtenteils wurde die Kunst aus der Sammlung Simon im August 1939 hier versteigert. Aus dem Erlös zahlte Fischer den Kredit an die Stadt Basel zurück. Der unverkaufte Teil, darunter „Die Vision“, gelangte erneut in das Depot des Kunstmuseums Basel. Eine weitere Auktion wurde 1941 angesetzt, aber wieder zurückgezogen, nachdem ein unbekannter Gönner Simons die Gläubiger befriedigt hatte. 1941 befanden sich noch 19 Gemälde und 5 Skulpturen im Baseler Depot. Die Restbestände, darunter auch Barlachs Relief, das seit 1938 durchgehend als Besitz Hugo Simons im Kunstmuseum Basel gelagert hatte, wurden nach dem Tod Simons 1950 von seiner Witwe Gertrud Simon ausgelöst.

Der Ankauf des Werks 1952 ist im Inventarbuch der Galerie des 20. Jahrhunderts wie folgt verzeichnet: „Erworben von: Simon’sche Erben, Dr. Eckert, Basel“.Q1 Als Dr. Friedrich Droß, Nachlassverwalter Ernst Barlachs und Herausgeber der zweibändigen Barlach-Brief-Edition, 1953 erfuhr, dass Adolf Jannasch „Die Vision“ für die Galerie angekauft hatte, bekundete er aus Bremen seine Freude: „Ich habe mich vor Jahr und Tag lange Zeit vergeblich bemüht, dieses Holz nach Deutschland zurückzubringen, – damals war es schlechterdings unmöglich, den hohen Preis aufzubringen, den Frau Simon verlangte. Wie schön, dass dies nun gelungen ist. Darf ich fragen, ob das Stück noch in Basel steht oder ob sie es bereits in Berlin haben?“Q7

Recherche: HS | Text: CT/HS

Retabel oben links, Aufkleber New Burlington Gallery London, Ausstellung: Modern German Art [1938]
Retabel oben links, Aufkleber Kunstpalast Düsseldorf: 2242
Retabel oben links, Kreide, blau, Aufkleber: B I
Retabel links Mitte, Kreide, weiß: 12
Retabel oben Mitte: überstrichener Aufkleber, Beschriftung getilgt
Retabel oben Mitte, Aufkleber: James Bourlet & Sons. Ltd. / Fine Art Packers, Frame Makers, / B 42532 [...]
Retabel oben Mitte: zwei Zollstempel [unleserlich]
Retabel oben Mitte, Aufkleber Montreal Museum of Fine Arts: for German Exhi[?]
Retabel oben Mitte rechts, Kreide, blau: in mehreren Lagen übereinander diverse Zahlen
Retabel oben rechts, abgerissener Aufkleber mit Textfragmenten: Barlach; Vision, Re[...]
Retabel oben rechts, Aufkleberfragment: Potsdamer Kunstsommer 1921 [...]; [Besitzvermerk abgerissen]
Retabel rechts Mitte: zwei Zollstempel [unleserlich]
Retabel Mitte: Aufkleber Berliner Secession 1912 mit eigenhändiger Unterschrift von Ernst Barlach als Aussteller
Retabel Mitte, Aufkleber: 1485
Retabel unten links: abgerissener Aufkleber der Galerie des 20. Jahrhunderts
Retabel Schmalseite links und Sockel links: E Barlach 1912
Sockel oben links, Aufkleber Kunstpalast Düsseldorf: 2239; Bleistiftvermerke [unleserlich]
Sockel links Mitte, Aufkleber Montreal Museum of Fine Arts: for German E.
Sockel oben links: Zollstempel [unleserlich]
Sockel oben Mitte, abgerissener Aufkleber: James Bourlet & Sons. / Fine Art Packers
Sockel oben Mitte, abgerissener Aufkleber mit Textfragmenten: Barlach Vision / [...] J. Flucht
Sockel Mitte, diverse abgerissene Aufkleber und übereinandergedruckte Stempelnummern, u. a.: 485
Sockel oben rechts, abgerissener Aufkleber mit Textfragmenten: Hau[...]; 17[...]
Sockel rechts Mitte, Kreide, blau, abgerissener Aufkleber: B

Q1 Inventarverzeichnis für Kunstwerke Berlins in der Nationalgalerie B 3000/306 [Inventar der Galerie des 20. Jahrhunderts (West)], 2 Bde., 1949–1982, Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten, Berlin, Eintrag vom 15.10.1952

Q2 Protokoll der Übergabe der Bestände der Galerie des 20. Jahrhunderts an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz [Gemälde und Skulpturen aus den Verwaltungs- und Ausstellungsräumen der Galerie], 5.6.1968, Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, S. 3

Q3 Liste Platten – Kasten I, Galerie A–K, 25.7.1957, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 02-0204-02-040.1 bis 040.3, Nr. 1

Q4 Brief Nina Senger an Roland März, 18.10.2000, Bildakte Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie

Q5 Brief Hugo Simon an Ernst Neuberg, 15.5.1947, Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, II A/NG 14, Bl. 51 f.

Q6 Kunstmuseum Basel, Handakte Simon

Q7 Brief Friedrich Droß an Adolf Jannasch, 22.5.1953, Landesarchiv Berlin, B Rep. 014-1796

Q8 Brief Ernst Barlach an Alfred Heuer, 19.5.1924, publiziert in: Friedrich Droß (Hrsg.), Ernst Barlach. Die Briefe I. 1888–1924, München 1968, Nr. 577

Q9 Werkfoto mit Rückseitenbeschriftung, Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, V/Sammlung Künstler: Barlach, Ernst, 00178/32

Q10 Brief Hugo Simon an Wilhelm Wartmann, um 1937/38, Archiv Kunsthaus Zürich, Korrespondenz Ausstellung Besitzer/Händler, Archiv 10.30.30.66

L1 Die Galerie des 20. Jahrhunderts. Katalog, hrsg. vom Senator für Volksbildung, Berlin 1953, Nr. 1

L2 Die Galerie des 20. Jahrhunderts. Katalog, hrsg. vom Senator für Volksbildung, Berlin 1958, Nr. 194

L3 Die Galerie des 20. Jahrhunderts. Katalog, hrsg. vom Senator für Volksbildung, Berlin 1960, Nr. 215

L4 Die Galerie des 20. Jahrhunderts. Katalog, hrsg. vom Senator für Volksbildung, Berlin 1963, Nr. 257

L5 Verzeichnis der Vereinigten Kunstsammlungen: Nationalgalerie (Preußischer Kulturbesitz) und Galerie des 20. Jahrhunderts (Land Berlin), hrsg. von den Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz, Berlin 1968, S. 342

L6 Die Kunstwelt, Bd. 1, H. 8, 1912

L7 Ernst Barlach. Bildwerke, Zeichnungen, Steindrucke, Entwürfe, Ausst.-Kat. Paul Cassirer Berlin, Berlin 1917, Nr. 11

L8 Stephan Lackner, Exhibition of 20th Century German Art, in: Stationen der Moderne, Ausst.-Kat. Berlinische Galerie, Berlin 1988, S. 315–323, hier S. 320, Abb. 10/15

L9 Esther Tisa Francini, Anja Heuss und Georg Kreis, Fluchtgut – Raubgut. Der Transfer von Kulturgütern in und über die Schweiz 1933–1945 und die Frage der Restitution, Zürich 2001, S. 171–179

L10 Felix Lorenz, Die Ausstellung der Berliner Sezession 1912, in: Die Kunstwelt (Berlin), Jg. 1, H. 8, 1912, S. 587, Abb. S. 600

L11 Karl Scheffler, Talente, Berlin 1917, Taf. S. 71

L12 Alois Schardt, Wesensmerkmale der deutschen bildenden Kunst, Halle 1933, Taf. 30

L13 Carl Einstein, Die Kunst des 20. Jahrhunderts, Berlin 1926, 2. Aufl. 1928, Taf. S. 522

L14 Carl Dietrich Carls, Ernst Barlach. Das plastische, graphische und dichterische Werk, Berlin 1931, Taf. S. 16

L15 Wolfgang Gielow, Ernst Barlach. Katalog der Plastik, München 1954, S. 22, Nr. 109

L16 Friedrich Schult, Ernst Barlach. Das plastische Werk, Hamburg 1960, Nr. 123

L17 Exhibition of Twentieth Century German Art, Ausst.-Kat. New Burlington Galleries London 1938

L18 Roland März (Hrsg.), Kunst in Deutschland. 1905–1937. Gemälde und Skulpturen aus der Sammlung der Nationalgalerie (Bilderheft der Staatlichen Museen zu Berlin, H. 67–69), Berlin 1992, S. 94, Nr. 69

L19 Elisabeth Laur, Ernst Barlach. Das plastische Werk, Güstrow 2006, Nr. 176

L20 Volker Probst, Ernst Barlach. Der bildhauerische Nachlaß in Güstrow, in: Ernst Barlach Stiftung Güstrow. Der Ernst Barlach Nachlass in Güstrow (Patrimonia, 100), Berlin und Güstrow 1995, S. 9–44, hier S. 24

L21 Elisabeth Laur, „Keinerlei restlos bequemes Hausen unterm Freundschaftsdach“. Ernst Barlach im Kunstsalon Cassirer, in: Berlin SW – Victoriastraße 35. Ernst Barlach und die Klassische Moderne im Kunstsalon und Verlag Paul Cassirer, hrsg. von Helga Thieme und Volker Probst, Ausst.-Kat. Ernst Barlach Stiftung Güstrow, Güstrow 2003, S. 81–93

L22 Ernst Barlach. Holzbildwerke, Ausst.-Kat. Paul Cassirer Berlin 1926, Nr. 7

L23 Eva Caspers, Kunst in „guten Häusern“. Ernst Barlachs Sammler im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: Berlin SW – Victoriastraße 35. Ernst Barlach und die Klassische Moderne im Kunstsalon und Verlag Paul Cassirer, hrsg. von Helga Thieme und Volker Probst, Ausst.-Kat. Ernst Barlach Stiftung Güstrow, Güstrow 2003, S. 95–130

L24 Katalog der 24. Ausstellung der Berliner Secession, Berlin 1924, Nr. 293