Die Galerie des 20. Jahrhunderts in West-Berlin
Ein Provenienzforschungsprojekt


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Ernst Barlach (1870–1938)
Liegender russischer Bauer, 1908

Schwarzburger Porzellan, weiß glasiert

Standort
Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin

1959 erworben durch das Land Berlin
Ankaufspreis: 800 DM

Weitere Werkdaten

Abweichende Titel
Liegender Bauer; Liegender russischer Hirte; Liegender russischer Bettler

Bezeichnung Vorderseite / Sichtfläche
unbezeichnet

Inventarnummern
Staatliche Museen zu Berlin: B 408
Inventar Land Berlin: 408
Weitere Nummern: 31/408

Werkverzeichnis-Nummer
Laur WV 131; Gielow WV 63; Schult WV 85

Foto: CC BY-NC-SA
Provenienz
wohl bis 1928 Richard Biesel, Stettin Q6
bis 1959 Ulrike und Hans Webisch, Berlin (Inschrift auf Standfläche) Q5, wohl per Erbschaft von Richard Biesel, Stettin Q7
1959 bis 1968 Galerie des 20. Jahrhunderts, Berlin, erworben von Ulrike und Hans Webisch Q1 Q6
seit 1968 als Dauerleihgabe des Landes Berlin in der Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
In welcher Auflage diese Skulptur eines liegenden Bauern aus Schwarzburger Porzellan zu Lebzeiten Ernst Barlachs produziert wurde, lässt sich aufgrund fehlenden Archivmaterials nicht mehr genau ermitteln. Das Modell der Figur entstand 1908, die unsignierten Abgüsse um 1912/13. Die Figuren waren jedoch keine Massenproduktion, sondern wurden auf Bestellung angefertigt, sodass eine Auflage von rund 10 bis 15 Stück angenommen werden kann.L6 Barlach selbst gab für seine Schwarzburger Porzellanware keine Auflagenbegrenzung vor.L7

Die Porzellanfiguren der Schwarzburger Werkstätten fanden vor allem in den Krisenjahren 1919 und 1920 großes Interesse. Zu den Käufern der relativ preiswerten Stücke gehörten laut den Geschäftsbüchern Paul Cassirers (Archiv Walter Feilchenfeldt, Zürich) einige Museen und Kunstvereine, aber auch die Galerien Arnold, Commeter, Goltz, Nebehay, Thannhauser und Zingler. 1923 stagnierte das Geschäft mit diesen Figuren.L8 Paul Cassirer – und über ihn der übrige Kunsthandel – hatte die Porzellanfiguren aber stets im Angebot. Einige der kursierenden Exemplare stammen wahrscheinlich aus Beständen, die Bernhard A. Böhmer ab 1933 nach Liquidation der Galerien Cassirer und Flechtheim für Barlach zurückerwarb.L10 Die fast unmögliche Identifizierung einzelner Stücke aus den Porzellanserien erschwert die Rekonstruktion lückenloser Provenienzen.

Barlach hatte 1909 mit Professor Max Adolf Pfeiffer, der in jenem Jahr die Schwarzburger Werkstätten als Kunstabteilung der Unterweißbacher Werkstätten für Porzellankunst frisch begründet hatte, die Ausführung einiger seiner Figuren in Porzellan vereinbart. Noch im selben Jahr wurde je eine Auflage von „Russisches Liebespaar“, „Sitzendes Mädchen“ und „Schreitende Frau“ produziert. 1912/13 führten die Werkstätten drei weitere Porzellane in Unterweißbach aus: „Blinder Bettler“, „Russische Bettlerin mit Schale“ und „Liegender Bauer“. Mit seiner Russlandreise 1906 hatte sich Barlach verstärkt der figuralen Darstellung des Alltagslebens in der Zarenzeit zugewandt. Die in dieser Werkphase entstandenen Skulpturen brachten ihm – mit ihrer Präsentation bei der 13. Ausstellung der Berliner Secession 1907 – den ersten öffentlichen Erfolg ein und schienen angesichts ihrer Beliebtheit besonders geeignet zu sein für die serielle Produktion. Barlachs Zusammenarbeit mit den Schwarzburger Werkstätten kam jedoch durch den Beginn des Ersten Weltkriegs und den Wechsel Max Adolf Pfeiffers zur Königlich-Sächsischen Porzellanmanufaktur Meißen zum Erliegen.

Der „Liegende Bauer“ trägt die Modellnummer „U 63“, das „U“ identifiziert Unterweißbach als Produktionsort. Diese Nummer ist auch auf dem Exemplar der Galerie des 20. Jahrhunderts zusammen mit dem blau eingebrannten Werkzeichen eines laufenden Fuchses und der Gussmarke der Werkstätten auf der Unterseite der Skulptur angebracht. Hier findet sich überdies mit dem kaum leserlichen Schriftzug in Rot „Webisch“ ein Hinweis auf den Vorbesitz. Das Ehepaar Hans und Ulrike Webisch, bis in die 1960er-Jahre in den Berliner Fernsprechbüchern unter der Adresse Rosenheimer Str. 38 in Berlin W 30 (Schöneberg) zu finden, hatte Adolf Jannasch die Bauernfigur bereits 1958 zum Kauf angeboten, zusammen mit einer Skulptur von Renée Sintenis. Jannasch lehnte zunächst ab: „Sie waren so freundlich, mir von der Porzellanfigur des liegenden Bauern von Barlach und von einer Sintenis-Plastik Nachricht zu geben. Ich habe mir das Problem eines evtl. Ankaufs sehr genau überlegt, ich kann aber durch einige wichtige Dispositionen […] nicht zugreifen, sodaß ich Ihnen im Augenblick nur für Ihren freundlichen Hinweis danken kann, ohne ihn im Augenblick realisieren zu können.“Q6 Im Folgejahr jedoch war ihm der Ankauf möglich. Während eines Telefonats mit der Familie Webisch notierte er auf einem Zettel „Slg. Richard Biesel Stettin“. Ein Pfeil quer über das Blatt verbindet diesen Sammlernamen mit der Notiz „Sammler Frau beerbt. Webisch hat ihn [den Bauern]“.Q7

Während eine durch das Stichwort „beerbt“ evozierte verwandtschaftliche Beziehung zwischen dem Stettiner Sammler Richard Biesel (1870–1928) und dem Berliner Ehepaar Webisch nicht nachgewiesen konnte, ist eine direkte Verbindung zwischen Biesel und Barlach durchaus belegt: 1921 gestaltete der Künstler als Auftragsarbeit das Familiengrabmal Biesel auf dem Stettiner Zentralfriedhof, für das er die Skulptur „Mutter Erde II“ fertigte (Schult 245 / Laur 316).L4 L6 Richard Biesel war Inhaber eines auf Holzwaren spezialisierten Familienunternehmens in Stettin (Justus Biesel Holzimport) und Ehrenmitglied der Norddeutschen Secession.

Recherche: HS | Text: CT/HS

Auf der Standfläche:
Numerierung: Fuchsmarke U 63 [Formnummer U = Unterweißbach]
Gussmarke: Schwarzburger Werk/stätten für Porzellankunst (geprägt)
Werkzeichen: [laufender Fuchs, blau eingebrannt]
Aufkleber der Galerie des 20. Jahrhunderts
in schwarzer Kreide, Nummer: AN 830 / TUE [unleserlich]
rot: Webisch / [unleserlich]

Rückseite
Foto: Zentralarchiv, Staatliche Museen zu Berlin
Rückseite
Foto: Zentralarchiv, Staatliche Museen zu Berlin

Q1 Inventarverzeichnis für Kunstwerke Berlins in der Nationalgalerie B 3000/306 [Inventar der Galerie des 20. Jahrhunderts (West)], 2 Bde., 1949–1982, Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten, Berlin, Eintrag Februar 1959

Q2 Liste der Kunstwerke, die am 6.6.1968 aus dem Depot der Galerie des 20. Jahrhunderts an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz übergeben wurden, o. D., Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, Bl. 5

Q3 Protokoll der Ankaufskommission, 6.11.1959, Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, II/VA 6754, Bl. 92

Q4 Übersicht der Ankäufe der Galerie des 20. Jahrhunderts, Rechnungsjahr 1958/59, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 10-0302-05-394

Q4 Protokoll der Ankaufskommission, 20.2.1959, Landesarchiv Berlin, B Rep. 002-11248 und B Rep. 014-1893

Q5 Brief Adolf Jannasch an Hans Webisch, 22.5.1958, Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, II B/Galerie des 20. Jahrhunderts – Land Berlin 4, Bl. 235

Q6 Telefonnotiz Adolf Jannasch, o.D., Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, II B/Galerie des 20. Jahrhunderts – Land Berlin 4, Bl. 236

L1 Die Galerie des 20. Jahrhunderts. Katalog, hrsg. vom Senator für Volksbildung, Berlin 1960, Nr. 214

L2 Die Galerie des 20. Jahrhunderts. Katalog, hrsg. vom Senator für Volksbildung, Berlin 1963, Nr. 256

L3 Verzeichnis der Vereinigten Kunstsammlungen: Nationalgalerie (Preußischer Kulturbesitz) und Galerie des 20. Jahrhunderts (Land Berlin), hrsg. von den Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz, Berlin 1968, S. 342

L4 Friedrich Schult, Ernst Barlach. Das plastische Werk, Hamburg 1960, Nr. 85

L5 Wolfgang Gielow, Ernst Barlach. Katalog der Plastik, München 1954, Nr. 063

L6 Elisabeth Laur, Ernst Barlach. Das plastische Werk, Güstrow 2006, Nr. 131

L7 Volker Probst, Ernst Barlach. Der bildhauerische Nachlaß in Güstrow, in: Ernst Barlach Stiftung Güstrow, Der Ernst Barlach Nachlass in Güstrow (Patrimonia, 100), Berlin und Güstrow 1995, S. 9–44, hier S. 10

L8 Eva Caspers, Kunst in „guten Häusern“. Ernst Barlachs Sammler im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: Berlin SW – Victoriastraße 35. Ernst Barlach und die Klassische Moderne im Kunstsalon und Verlag Paul Cassirer, hrsg. von Helga Thieme und Volker Probst, Ausst.-Kat. Ernst Barlach Stiftung Güstrow, Güstrow 2003, S. 95–130

L9 Ekkart Klinge, Ernst Barlach. Porzellan, Leipzig 1995, S. 7

L10 Elmar Jansen, Ernst Barlach. Katalog I. Plastik 1894–1937 (Ernst Barlach. Werke und Werkentwürfe aus fünf Jahrzehnten, Bd. 1), Berlin 1981, Nr. 20

L11 Dariusz Kacprzak, Das Stettiner memento mori Ernst Barlachs – Mutter Erde, in: Ernst Barlach. Bilder vom Tode im Werk eines deutschen Expressionisten, hrsg. von Szymon Piotr Kubiak und Volker Probst, Ausst.-Kat. Museum für Zeitgenössische Kunst, Nationalmuseum Stettin, Ernst Barlach Stiftung Güstrow, Stettin 2011, S. 9–15