Die Galerie des 20. Jahrhunderts in West-Berlin
Ein Provenienzforschungsprojekt


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Georg Muche (1895–1987)
Badende, 1930/32

Öl auf Leinwand
45 x 38 cm

Standort
Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin

1966 erworben durch das Land Berlin
Inventarwert: 1.500 DM

Weitere Werkdaten

Bezeichnung Vorderseite / Sichtfläche
unten rechts: G Muche

Inventarnummern
Staatliche Museen zu Berlin: B 844
Inventar Land Berlin: 844/10

Foto: März, Roman / © Bauhaus-Archiv / Museum für Gestaltung, Berlin 2016
Provenienz
wohl 1934 bis 1955 Heinrich Evert, Berlin
1955 bis 1966 Gertrud Evert, Berlin, per Erbschaft Q3
1966 bis 1968 Galerie des 20. Jahrhunderts, Berlin, erworben von Gertrud Evert, Teil des Schenkungskonvoluts Sammlung Evert, Nr. 10 Q1
seit 1968 als Dauerleihgabe des Landes Berlin in der Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
Das Werk „Badende“ von Georg Muche ist in Öl auf Leinwand gemalt, jedoch nicht auf einen Keilrahmen gespannt. Es ist wie eine Graphik unter einem Passepartout aufgelegt; rückseitig sind in den vier Ecken kleine (heute einseitig abgelöste) Papierstreifen auf die Leinwand geklebt, die zur Fixierung des Bildes auf der Pappe dienten. Da die Leinwand keine Löcher oder andere Aufspannspuren vorweist, ist zu vermuten, dass es immer schon – also bereits in der Sammlung Heinrich Evert und bei der Übergabe von dort an die Galerie des 20. Jahrhunderts – in der Art einer Graphik präsentiert und verwahrt wurde. Dem entspricht die Tatsache, dass das Bild eine rechteckige Bleistiftmarkierung aufweist, die dem Ausschnitt des Passepartouts entspricht und vermutlich vom Künstler appliziert wurde.

In einem Brief an Heinrich Evert schlug Muche am 23. November 1934 den Kauf einer Landschaftszeichnung zusammen mit einem „kleinen Ölbild“ vor: „Unter uns Freunden jedoch sind […] 40.- M wohl angemessen. Das kleine Ölbild soll 60.- M kosten. Da mein Interesse an Ihrer Sammlung immer größer wird berechne ich ‚zur Förderung der Sammlung‘ für beide zusammen 80.- M.“Q6 Mit dem „kleinen Ölbild“ könnte die Arbeit „Badende“ gemeint sein. Der Brief fiel in eine für Muche nicht leichte Umbruchphase: Einige Monate zuvor von den Nationalsozialisten aus seiner Professur an der Akademie in Breslau entlassen, war er nach Berlin gekommen, um an Hugo Härings privater Kunstschule zu unterrichten. 1943 verlor er einen großen Teil seiner Arbeiten durch die Bombardierung seiner Wohnung, insbesondere jene aus der Breslauer Zeit.L4

Die Galerie des 20. Jahrhunderts besaß elf Gemälde, Zeichnungen und Druckgraphiken der 1910er- bis 1930er-Jahre von Georg Muche. Bis auf das Bild „Sommer“ und ein weiteres („Ohne Titel“), das sich heute im Berliner Bauhaus-Archiv befindet, stammen sie alle aus der Sammlung Heinrich Evert, die 1966 durch Vermächtnis seiner Witwe Gertrud in die Galerie gelangte.

Heinrich Evert (Hannover 1879–1955 Berlin) sammelte in den 1920er- bis 1950er-Jahren Werke deutscher Künstler der Moderne. Ausgebildet an der hannoverschen Kunstgewerbeschule und der Baugewerkschule in Buxtehude sowie den Technischen Hochschulen in Berlin und Hannover hatte er seine Laufbahn im öffentlichen Dienst 1905 als Abteilungsleiter der Hochbauabteilung beim Stadtbauamt Jena begonnen. 1910 wurde er zum Stadtbaurat in Jauer (Jawor, heute Polen) berufen, wo er von 1927 bis 1934 auch das Amt des Bürgermeisters bekleidete. In seiner Zeit dort setzte Evert sich vor allem für kulturelle und soziale Belange ein und wirkte am modernen Siedlungsbau mit. Nach Januar 1933 geriet er „als Nichtparteigenosse und Freimaurer“, wie er sich selbst bezeichnete,Q5 ins Visier der NSDAP; im Oktober 1934 legte er sein Amt in Jauer nieder und siedelte nach Berlin um. Hier war er von 1936 bis 1945 als kommunaler Berater der Wehrkreisverwaltung III tätig und wurde 1946 zum Bezirksrat und Leiter der Abteilung für Bau- und Wohnungswesen im Bezirksamt Berlin-Wilmersdorf berufen. Ab 1951 wirkte Evert als Bezirksstadtrat. Bis zu seinem Tod 1955 wohnte er in der Rudolstädter Straße 100 in Wilmersdorf.

Seine Leidenschaft für aktuelle Kunst ließ Heinrich Evert den Kontakt zu Künstlern seiner Zeit suchen. Durch die Nähe der Stadt Jauer zu Breslau hatte er eine besondere Verbindung zur Breslauer Akademie: Zahlreiche dort tätige Kunstschaffende, darunter Oskar Moll und Georg Muche, Robert Bednorz, Otto Mueller und Alexander Camaro, waren – häufig mit mehreren Werken – in seiner Sammlung vertreten. Hinzu kamen Arbeiten von Kurt Schwitters, Karl Schmidt-Rottluff, Werner Heldt und zahlreichen anderen, mit denen den Sammler vielfach eine oft langjährige Freundschaft verband. Die Werke für seine Sammlung erwarb Heinrich Evert zum größten Teil direkt bei den Künstlern.

Auch Adolf Jannasch kannte Evert persönlich, wie der Eintrag in Jannaschs Sammler-Notizbuch belegt: „Evert / ‚Bauen und Wohnen‘ / Schwitters, Heldt, Moderne, Müller, Muche, Camaro“.Q4 Diese Bekanntschaft mag Everts Beschluss, der Galerie seine Sammlung anzuvertrauen, bekräftigt haben. So legte der kinderlose Baurat testamentarisch fest: „Ich setze als Erben meiner gesamten Kunstgegenstände (Gemälde, Graphiken, Plastiken, Sammelmappen, kunstgewerbliche Gegenstände und einschlägige Literatur) das Land Berlin ein. Für die Betreuung dieser Kunstwerke soll die Galerie des XX. Jahrhunderts zuständig sein.“Q7 Diesem Wunsch folgend, hinterließ seine Witwe Gertrud Evert, geborene Fangauf, mit ihrem Tod 1966 dem Land Berlin 117 Gemälde, Zeichnungen und graphische Blätter.Q3 Vereinzelte Werke scheint Heinrich Evert auch dem Stadtmuseum Berlin vermacht zu haben.

Mit Georg Muche pflegten Heinrich und Gertrud Evert lange Jahre eine persönliche Bekanntschaft. In einer Akte zu Muche aus dem Otto-Nagel-Haus in Berlin (Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, ONH 123) finden sich Kopien kleiner Kontaktabzüge, offensichtlich aus einem Fotoalbum Muches. Die Fotografien tragen die von Muche handschriftlich notierte Überschrift „In Jauer, Sammler Ebert [sic]“, und dokumentieren einen (vielleicht ersten) Besuch in Everts Familienhaus mit Garten. In der 1961 publizierten Autobiografie Muches wird Evert im Kapitel „Der größte Sammler“ beschrieben: „Mein Freund Heinrich Evert, der Bürgermeister in einer stillen schlesischen Stadt war, kaufte dann und wann ein Bild, weil er eine große Liebe zu dem geheimnisvollen Leben hatte, das sich in Bildern offenbart. Er sah in ihnen das Gleichnis einer geistigen Ordnung, und jedes Bild in seiner Sammlung war für ihn ein Zeichen der Begegnung mit einem der seltsamen Menschen, die Bilder malen“.L3 Im Berliner Bauhaus-Archiv sowie im Deutschen Kunstarchiv in Nürnberg hat sich Korrespondenz zwischen den Eheleuten Evert und Muche erhalten. Zu Kriegszeiten verfasste Muche gar ein Testament, in dem er das kinderlose Ehepaar Evert als Erben seines künstlerischen Nachlasses einsetzte (Deutsches Kunstarchiv Nürnberg, NL Muche, Georg, 6.9.1939). Gertrud Evert pflegte auch über den Tod ihres Gatten hinaus freundschaftlichen Briefwechsel mit Muche (vgl. Korrespondenz ebd., NL Muche, Georg, I,C-183), oft aus Anlass externer Leihanfragen von Muche-Werken aus der Sammlung Evert.

Recherche: CT | Text: CT

Ölskizze: Am Tische sitzende Frau
Papierstreifen zur graphikartigen Montierung auf Passepartout an vier Ecken der Leinwand

Rückseite
Foto: Zentralarchiv, Staatliche Museen zu Berlin

Q1 Inventarverzeichnis für Kunstwerke Berlins in der Nationalgalerie B 3000/306 [Inventar der Galerie des 20. Jahrhunderts (West)], 2 Bde., 1949–1982, Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten, Berlin, erworben Juni 1966

Q2 Liste der Kunstwerke, die am 6.6.1968 aus dem Depot der Galerie des 20. Jahrhunderts an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz übergeben wurden, o. D., Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, Bl. 2 (Depot K)

Q3 Erbvertrag zwischen Gertrud Evert und dem Land Berlin, 1.8.1957, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 04-0601-02-010.1 ff.

Q4 Sammler-Notizbuch Adolf Jannasch, Privatbesitz

Q5 Lebenslauf Heinrich Evert, 14.10.1945, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 02-0204-02-000

Q6 Georg Muche an Heinrich Evert, 23.11.1934, Bauhaus-Archiv, Berlin, NL Muche, Mappe 266

Q7 Protokoll für notarielle Beurkundungen, Amtsgericht Berlin-Charlottenburg, 1.8.1958, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 04-0601-02-000

L1 Verzeichnis der Vereinigten Kunstsammlungen: Nationalgalerie (Preußischer Kulturbesitz) und Galerie des 20. Jahrhunderts (Land Berlin), hrsg. von den Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz, Berlin 1968, S. 151 (ohne Abb.)

L2 Poelzig, Endell, Moll und die Breslauer Kunstakademie. 1911–1932, Ausst.-Kat. Akademie der Künste Berlin; Städtisches Museum Mülheim an der Ruhr; Stadthalle Darmstadt, Berlin 1965, Nr. 305, S. 102 (als Besitzerin Gertrud Evert; ohne Abb.)

L3 Georg Muche, Blickpunkt. Sturm Dada Bauhaus Gegenwart, München 1961, S. 223 f.

L4 Magdalena Droste u. a. (Hrsg.), Georg Muche. Das künstlerische Werk 1912–1927. Kritisches Werkverzeichnis der Gemälde, Zeichnungen, Fotos und architektonischen Arbeiten, Ausst.-Kat. Bauhaus-Archiv Berlin 1980