Die Galerie des 20. Jahrhunderts in West-Berlin
Ein Provenienzforschungsprojekt


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Kurt Schwitters (1887–1948)
MERZ 1926,8, 1926

Öl auf Leinwand
80 x 65,5 cm

Standort
Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin

1966 erworben durch das Land Berlin
Inventarwert: 12.000 DM

Weitere Werkdaten

Abweichende Titel
Konstruktives Bild (Merz 1926, Nr. 8); Komposition; Bild 1926,8 Verschobene Flächen

Bezeichnung Vorderseite / Sichtfläche
oben rechts: K S 26

Inventarnummern
Staatliche Museen zu Berlin: B 849
Inventar Land Berlin: 849/15
Weitere Nummern: 850/69; 849/68

Werkverzeichnis-Nummer
Orchard/Schulz WV 1348

Foto: Anders, Jörg P. / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016
Provenienz
wohl ab 1927 L4 bis 1955 Heinrich Evert, Berlin, erworben vom Künstler
1955 bis 1966 Gertrud Evert, Berlin, per Erbschaft Q4
1966 bis 1968 Galerie des 20. Jahrhunderts, Berlin, erworben von Gertrud Evert, Teil des Schenkungskonvoluts Sammlung Evert, Nr. 13 Q1
seit 1968 als Dauerleihgabe des Landes Berlin in der Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
Der Hannoveraner Kurt Schwitters – Schöpfer des Wortes „Merz“ (ein Zufallsfragment aus einer Collage mit dem Schriftzug „Kommerz“) als Synonym für die Kunstbewegung Dada – hatte 1927 eine „Große Merzausstellung“ zusammentragen, die in Wiesbaden, Bochum, Barmen, Köln, Hannover und anderen Orten in Deutschland gezeigt wurde. Sein „Konstruktives Bild (MERZ 1926, Nr. 8)“ war als Nr. 39 im zugehörigen, in der Art einer Zeitschrift angelegten Katalog verzeichnet mit der Erläuterung, dass es 1926 im Atelier von Lajos von Ebneth im holländischen Kijkduin entstanden und nicht verkäuflich sei.L3 Es war eines von nur zwei Werken in der Ausstellung, die als unverkäuflich aufgeführt wurden. Wahrscheinlich befand sich das Gemälde zu jener Zeit bereits im Besitz Heinrich Everts, aus dessen Vermächtnis es 1966, zusammen mit vier weiteren Werken Schwitters’, in die Galerie des 20. Jahrhunderts gelangte.

Heinrich Evert (Hannover 1879–1955 Berlin) sammelte in den 1920er- bis 1950er-Jahren Werke deutscher Künstler der Moderne, neben denen von Schwitters vor allem von Oskar Moll und Georg Muche sowie Otto Mueller, Alexander Camaro, Karl Schmidt-Rottluff, Werner Heldt und zahlreichen anderen. Ausgebildet an der hannoverschen Kunstgewerbeschule und der Baugewerkschule in Buxtehude sowie den Technischen Hochschulen in Berlin und Hannover hatte Evert seine Laufbahn im öffentlichen Dienst 1905 als Abteilungsleiter der Hochbauabteilung beim Stadtbauamt Jena begonnen. 1910 wurde er zum Stadtbaurat in Jauer berufen, wo er von 1927 bis 1934 auch das Amt des Bürgermeisters bekleidete. In seiner Zeit dort setzte Evert sich vor allem für kulturelle und soziale Belange ein und wirkte am modernen Siedlungsbau mit. Nach Januar 1933 geriet er „als Nichtparteigenosse und Freimaurer“, wie er sich selbst bezeichnete,Q6 ins Visier der NSDAP; im Oktober 1934 legte er sein Amt in Jauer nieder und siedelte nach Berlin um. Hier war er von 1936 bis 1945 als kommunaler Berater der Wehrkreisverwaltung III tätig und wurde 1946 zum Bezirksrat und Leiter der Abteilung für Bau- und Wohnungswesen im Bezirksamt Berlin-Wilmersdorf berufen. Ab 1951 wirkte Evert als Bezirksstadtrat. Bis zu seinem Tod 1955 wohnte er in der Rudolstädter Straße 100 in Wilmersdorf.

Dass Adolf Jannasch, Leiter der Galerie des 20. Jahrhunderts, Evert persönlich kannte, zeigt der Eintrag in seinem Sammler-Notizbuch: „Evert / ‚Bauen und Wohnen‘ / Schwitters, Heldt, Moderne, Müller, Muche, Camaro“.Q5 Diese Bekanntschaft mag Everts Beschluss, der Galerie seine Sammlung anzuvertrauen, bekräftigt haben. So legte der kinderlose Baurat testamentarisch fest: „Ich setze als Erben meiner gesamten Kunstgegenstände (Gemälde, Graphiken, Plastiken, Sammelmappen, kunstgewerbliche Gegenstände und einschlägige Literatur) das Land Berlin ein. Für die Betreuung dieser Kunstwerke soll die Galerie des XX. Jahrhunderts zuständig sein“.Q9 Diesem Wunsch folgend, hinterließ seine Witwe Gertrud Evert, geborene Fangauf, mit ihrem Tod 1966 dem Land Berlin 117 Gemälde, Zeichnungen und graphische Blätter.Q4 Vereinzelte Werke scheint Heinrich Evert auch dem Stadtmuseum Berlin vermacht zu haben.

Die Werke für seine Sammlung erwarb Heinrich Evert zum größten Teil direkt bei den Künstlern; mit vielen war er persönlich bekannt oder freundschaftlich verbunden. Einer seiner ersten engen Künstlerfreunde war Kurt Schwitters, der, wie er selbst, aus Hannover kam. 1948 verstarb Schwitters im englischen Exil. Am 25. Januar 1953 bekannte Evert in einem Brief an Georg Muche: „Du weißt ja, dass Kurt Schwitters eine alte Liebe von mir ist, der ich bis an mein Lebensende treu bleiben werde.“Q7 Eine Anfrage des Kunsthändlers Ferdinand Möller, ob er Arbeiten von Schwitters zu verkaufen habe, schlug Evert im selben Monat mit ähnlichen Worten aus: „Es ist eine Genugtuung zu hören, dass Schwitters (eine meiner ‚Jugendlieben‘) nicht ganz in Vergessenheit geraten ist. Was Ihre Anfrage betrifft […] muss ich Sie leider enttäuschen. Mit diesen Bildern verbinde ich so viele liebe, persönliche Erinnerungen an Kurt Schwitters, dass ich mich nicht von ihnen trennen will.“Q8 Dass die persönliche Bekanntschaft zwischen Schwitters und Evert schon Ende der 1920er-Jahre bestand, belegt ein Brief des Künstlers an Katherine Dreier vom Januar 1927: „Dann habe ich allein eine Reise von 4 Wochen nach Berlin und Dresden gemacht. Habe etwas verdient, aber leider nicht genug. Aber man hilft sich so durch. In Dresden habe ich für Frau Bienert einige Räume gestalten helfen und ihr zwei Merzzeichnungen verkauft. Ich habe überhaupt mehrere neue Arbeiten verkauft, an Kirchhoff, Jaffee (Hamburg) und Baurat Evert in Jauer in Oberschlesien. Evert hat 2 große Bilder gekauft.“L4 Es ist höchstwahrscheinlich, dass eines dieser beiden Werke „Konstruktives Bild“ war, das Schwitters im Vorjahr gemalt hatte.

Das stetige Anwachsen der Schwitters-Sammlung Everts um 1930 beschrieb Muche 1961 mit warmen Worten: „Mein Freund Heinrich Evert, der Bürgermeister in einer stillen schlesischen Stadt war, kaufte dann und wann ein Bild, weil er eine große Liebe zu dem geheimnisvollen Leben hatte, das sich in Bildern offenbart. Er sah in ihnen das Gleichnis einer geistigen Ordnung, und jedes Bild in seiner Sammlung war für ihn ein Zeichen der Begegnung mit einem der seltsamen Menschen, die Bilder malen. Auch Kurt Schwitters hatte ihm seine Freundschaft geschenkt. […] Evert kaufte [ein Werk von Schwitters] – und später wieder einmal ein Blatt – und dann noch eins – und dann ein Bild. Da schrieb ihm Schwitters auf einer Postkarte: ‚Nun sind Sie mein größter Sammler.‘“L5

Recherche: CT | Text: CT

Leinwandrückseite, kopfstehend, Bezeichnung von Künstlerhand: Merz 1926, 8
Außenrahmen oben links, Aufkleber: 46 II/III
Außenrahmen: diverse Aufkleber von Ausstellungen nach 1966; darunter Genua 1972, Düsseldorf 1992, Basel 2004
Außenrahmen unten, kopfstehend, Aufkleber: The Montreal Museum of Fine Arts / Box No. 10-2 / For German Ex
Keilrahmen unten Mitte, kopfstehend, Signatur: Kurt Schwitters 1926
Keilrahmen unten Mitte, kopfstehend: Aufkleber der Galerie des 20. Jahrhunderts mit Inv.-Nr. 849/68

Q1 Inventarverzeichnis für Kunstwerke Berlins in der Nationalgalerie B 3000/306 [Inventar der Galerie des 20. Jahrhunderts (West)], 2 Bde., 1949–1982, Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten, Berlin, erworben Juni 1966

Q2 Protokoll der Übergabe der Bestände der Galerie des 20. Jahrhunderts an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz [Gemälde und Skulpturen aus den Verwaltungs- und Ausstellungsräumen der Galerie], 5.6.1968, Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, S. 2

Q3 Liste Platten – Kasten IV, Galerie S-Z, Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, Ordner B: Vereinigte Kunstsammlungen

Q4 Erbvertrag zwischen Gertrud Evert und dem Land Berlin, 1.8.1957, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 04-0601-02-010.1 ff.

Q5 Sammler-Notizbuch Adolf Jannasch, Privatbesitz

Q6 Lebenslauf Heinrich Evert, 14.10.1945, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 02-0204-02-000

Q7 Brief Heinrich Evert an Georg Muche, 25.1.1953, Deutsches Kunstarchiv Nürnberg, NL Muche, Georg I,C-183

Q8 Brief Heinrich Evert an Ferdinand Möller, 29.1.1953, Archiv Berlinische Galerie, DE BG-GFM-MF 5317, 155

Q9 Protokoll für notarielle Beurkundungen, Amtsgericht Berlin-Charlottenburg, 1.8.1958, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 04-0601-02-000

L1 Verzeichnis der Vereinigten Kunstsammlungen: Nationalgalerie (Preußischer Kulturbesitz) und Galerie des 20. Jahrhunderts (Land Berlin), hrsg. von den Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz, Berlin 1968, S. 192

L2 Karin Orchard und Isabel Schulz, Kurt Schwitters: Catalogue raisonné, Hannover 2003, Bd. 2, Nr. 1348

L3 Kurt Schwitters (Hrsg.), Merz, Hannover 1923–1932, hier Bd. 20: Merz 20, Kurt Schwitters [im Merzverlag erschienener Ausst.-Kat. im Zeitschriftenformat zur „Großen Merzausstellung 1927“, eine von Schwitters zusammengetragene Schau, die u. a. in Wiesbaden, Bochum, Barmen, Köln und Hannover zu sehen war], Nr. 39 („unv.“ für unverkäuflich)

L4 Brief Kurt Schwitters an Katherine S. Dreier, 29.1.1927, abgedruckt in: Ernst Nündel (Hrsg.), Kurt Schwitters. Wir spielen bis der Tod uns abholt, Frankfurt am Main u. a. 1974, S.111 f.

L5 Georg Muche, Blickpunkt. Sturm Dada Bauhaus Gegenwart, München 1961, S. 180 f.