Die Galerie des 20. Jahrhunderts in West-Berlin
Ein Provenienzforschungsprojekt


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Georg Muche (1895–1987)
Blüten, 1925

Öl auf Leinwand
47,3 x 47,6 cm

Standort
Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin

1966 erworben durch das Land Berlin
Inventarwert: 3.000 DM

Weitere Werkdaten

Bezeichnung Vorderseite / Sichtfläche
unbezeichnet

Inventarnummern
Staatliche Museen zu Berlin: B 843
Inventar Land Berlin: 843/9

Werkverzeichnis-Nummer
Droste WV M107

Foto: März, Roman / © Bauhaus-Archiv / Museum für Gestaltung, Berlin 2016
Provenienz
vor 1933 bis 1955 Heinrich Evert, Berlin
1955 bis 1966 Gertrud Evert, Berlin, per Erbschaft Q4
1966 bis 1968 Galerie des 20. Jahrhunderts, Berlin, erworben von Gertrud Evert, Teil des Schenkungskonvoluts Sammlung Evert, Nr. 9 Q1
seit 1968 als Dauerleihgabe des Landes Berlin in der Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
In den Akten der Galerie des 20. Jahrhunderts hat sich ein altes schwarz-weises Foto des Gemäldes „Blüten“ erhalten,Q3 das rückseitig folgenden handschriftlichen Vermerk des Künstlers trägt: „Lieber Herr Evert, ich glaube dieses Bild ist 1925 gemalt. Ihr G Muche. Breslau 2. November 1933“. In einer zweiten Zeile fügte Muche – wie in einem Nachgedanken, mit ironischem Unterton – hinzu: „natürlich ist es von mir gemalt, Herr“ (wobei er das „mir“ doppelt unterstrich). Es ist somit anzunehmen, dass der Kunstsammler Heinrich Evert das Bild vor dieser Notiz, also spätestens 1933, von Muche erworben hatte.

Die Galerie des 20. Jahrhunderts besaß elf Gemälde, Zeichnungen und Druckgraphiken der 1910er- bis 1930er-Jahre von Georg Muche. Bis auf das Bild „Sommer“ und ein weiteres „ohne Titel“, das sich heute im Berliner Bauhaus-Archiv befindet, stammen sie alle aus der Sammlung Heinrich Evert, die 1966 durch Vermächtnis seiner Witwe Gertrud in die Galerie gelangte.

Heinrich Evert (Hannover 1879–1955 Berlin) sammelte in den 1920er- bis 1950er-Jahren Werke deutscher Künstler der Moderne. Ausgebildet an der hannoverschen Kunstgewerbeschule und der Baugewerkschule in Buxtehude sowie den Technischen Hochschulen in Berlin und Hannover hatte er seine Laufbahn im öffentlichen Dienst 1905 als Abteilungsleiter der Hochbauabteilung beim Stadtbauamt Jena begonnen. 1910 wurde er zum Stadtbaurat in Jauer (Jawor, heute Polen) berufen, wo er von 1927 bis 1934 auch das Amt des Bürgermeisters bekleidete. In seiner Zeit dort setzte Evert sich vor allem für kulturelle und soziale Belange ein und wirkte am modernen Siedlungsbau mit. Nach Januar 1933 geriet er „als Nichtparteigenosse und Freimaurer“, wie er sich selbst bezeichnete,Q6 ins Visier der NSDAP; im Oktober 1934 legte er sein Amt in Jauer nieder und siedelte nach Berlin um. Hier war er von 1936 bis 1945 als kommunaler Berater der Wehrkreisverwaltung III tätig und wurde 1946 zum Bezirksrat und Leiter der Abteilung für Bau- und Wohnungswesen im Bezirksamt Berlin-Wilmersdorf berufen. Ab 1951 wirkte Evert als Bezirksstadtrat. Bis zu seinem Tod 1955 wohnte er in der Rudolstädter Strase 100 in Wilmersdorf.

Seine Leidenschaft für aktuelle Kunst ließ Heinrich Evert den Kontakt zu Künstlern seiner Zeit suchen. Durch die Nähe der Stadt Jauer zu Breslau hatte er eine besondere Verbindung zur Breslauer Akademie: Zahlreiche dort tätige Kunstschaffende, darunter Oskar Moll und Georg Muche, waren – oft mit mehreren Werken – in seiner Sammlung vertreten. Hinzu kamen Arbeiten von Kurt Schwitters, Otto Mueller, Alexander Camaro, Karl Schmidt-Rottluff, Werner Heldt und zahlreichen anderen, mit denen den Sammler vielfach eine oft langjährige Freundschaft verband. Die Werke für seine Sammlung erwarb Heinrich Evert zum grösten Teil direkt bei den Künstlern.

Auch Adolf Jannasch kannte Evert persönlich, wie der Eintrag in Jannaschs Sammler-Notizbuch belegt: „Evert / ‚Bauen und Wohnen‘ / Schwitters, Heldt, Moderne, Müller, Muche, Camaro“.Q5 Diese Bekanntschaft mag Everts Beschluss, der Galerie seine Sammlung anzuvertrauen, bekräftigt haben. So legte der kinderlose Baurat testamentarisch fest: „Ich setze als Erben meiner gesamten Kunstgegenstände (Gemälde, Graphiken, Plastiken, Sammelmappen, kunstgewerbliche Gegenstände und einschlägige Literatur) das Land Berlin ein. Für die Betreuung dieser Kunstwerke soll die Galerie des XX. Jahrhunderts zuständig sein.“Q7 Diesem Wunsch folgend, hinterlies seine Witwe Gertrud Evert, geborene Fangauf, mit ihrem Tod 1966 dem Land Berlin 117 Gemälde, Zeichnungen und graphische Blätter.Q4 Vereinzelte Werke scheint Heinrich Evert auch dem Stadtmuseum Berlin vermacht zu haben.

Mit Georg Muche pflegten Heinrich und Gertrud Evert lange Jahre eine persönliche Bekanntschaft. In einer Akte zu Muche aus dem Otto-Nagel-Haus in Berlin (Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, ONH 123) finden sich Kopien kleiner Kontaktabzüge, offensichtlich aus einem Fotoalbum Muches. Die Fotografien tragen die von Muche handschriftlich notierte Überschrift „In Jauer, Sammler Ebert [sic]“, und dokumentieren einen (vielleicht ersten) Besuch in Everts Familienhaus mit Garten. In der 1961 publizierten Autobiografie Muches wird Evert im Kapitel „Der größte Sammler“ beschrieben: „Mein Freund Heinrich Evert, der Bürgermeister in einer stillen schlesischen Stadt war, kaufte dann und wann ein Bild, weil er eine große Liebe zu dem geheimnisvollen Leben hatte, das sich in Bildern offenbart. Er sah in ihnen das Gleichnis einer geistigen Ordnung, und jedes Bild in seiner Sammlung war für ihn ein Zeichen der Begegnung mit einem der seltsamen Menschen, die Bilder malen“.L4 Im Berliner Bauhaus-Archiv sowie im Deutschen Kunstarchiv in Nürnberg hat sich Korrespondenz zwischen den Eheleuten Evert und Muche erhalten. Zu Kriegszeiten verfasste Muche gar ein Testament, in dem er das kinderlose Ehepaar Evert als Erben seines künstlerischen Nachlasses einsetzte (Deutsches Kunstarchiv Nürnberg, NL Muche, Georg, 6.9.1939). Gertrud Evert pflegte auch über den Tod ihres Gatten hinaus freundschaftlichen Briefwechsel mit Muche (vgl. Korrespondenz ebd., NL Muche, Georg, I,C-183), oft aus Anlass externer Leihanfragen von Muche-Werken aus der Sammlung Evert.

Über seinen Vater war Muche früh in Kontakt mit Kunst gekommen: Felix Muche (später Felix Ramholz, 1868–1947) war ein „Sonntagsmaler“ und Sammler moderner Kunst, der Werke von Pablo Picasso, Marc Chagall, Paul Klee, Wassily Kandinsky, Franz Marc und Jean Metzinger besaß. Georg Muche, der 1920 (mit 25 Jahren) als jüngster Lehrer ans Weimarer Bauhaus kam, hatte sich zunächst im Umfeld von Herwarth Waldens Der Sturm und der Novembergruppe in der Hauptstadt bewegt. Beeindruckt von der Kunstlehre Johannes Ittens am Bauhaus, ging er 1927 zum Unterrichten an dessen in Berlin gegründete Kunstschule. 1931 nahm Muche eine Professur an der Akademie in Breslau an, wurde mit Einsetzen des NS-Regimes jedoch entlassen. Erneut in Berlin, unterrichtete er bis 1938 an Hugo Härings privater Kunstschule, bevor er 1939 an die Textilingenieurschule Krefeld wechselte, wo er bis 1958 blieb. 1943 verlor er einen großen Teil seiner Arbeiten durch die Bombardierung seiner Wohnung.

Recherche: CT | Text: CT

auf der Leinwand, eigenhändig: 1925 Blüten Georg Muche
Keilrahmen oben rechts: Aufkleber der Galerie des 20. Jahrhunderts
Keilrahmen, handschriftliche Bezeichnungen, Aufkleberspuren und Widmung: Lieber Herr Evert, ich glaube dieses Bild ist 1925 gemalt. Ihr G Muche. Breslau 2. November 1933 / natürlich ist es von mir [doppelt unterstrichen] gemalt, Herr

Rückseite

Q1 Inventarverzeichnis für Kunstwerke Berlins in der Nationalgalerie B 3000/306 [Inventar der Galerie des 20. Jahrhunderts (West)], 2 Bde., 1949–1982, Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten, Berlin, erworben Juni 1966

Q2 Liste der Kunstwerke, die am 6.6.1968 aus dem Depot der Galerie des 20. Jahrhunderts an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz übergeben wurden, o. D., Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, Bl. 3 (Depot L)

Q3 Kataloge zu Georg Muche in Akten aus der Sammlung Evert, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 01-0200-10-219 [dazu eine kleine Reproduktion des Bildes „Blüten“ mit Eigenhändigkeitsbestätigung]

Q4 Erbvertrag zwischen Gertrud Evert und dem Land Berlin, 1.8.1957, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 04-0601-02-010.1 ff.

Q5 Sammler-Notizbuch Adolf Jannasch, Privatbesitz

Q6 Lebenslauf Heinrich Evert, 14.10.1945, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 02-0204-02-000

Q7 Protokoll für notarielle Beurkundungen, Amtsgericht Berlin-Charlottenburg, 1.8.1958, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 04-0601-02-000

L1 Verzeichnis der Vereinigten Kunstsammlungen: Nationalgalerie (Preußischer Kulturbesitz) und Galerie des 20. Jahrhunderts (Land Berlin), hrsg. von den Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz, Berlin 1968, S. 151

L2 Poelzig, Endell, Moll und die Breslauer Kunstakademie 1911–1932, Ausst.-Kat. Akademie der Künste Berlin; Stadthalle Mülheim an der Ruhr; Kunstverein Darmstadt, Berlin 1965, Nr. 300, S. 102 (als Besitzerin Gertrud Evert)

L3 Magdalena Droste u. a. (Hrsg.), Georg Muche. Das künstlerische Werk 1912–1927. Kritisches Werkverzeichnis der Gemälde, Zeichnungen, Fotos und architektonischen Arbeiten, Ausst.-Kat. Bauhaus-Archiv Berlin 1980, Nr. M 107

L4 Georg Muche, Blickpunkt. Sturm Dada Bauhaus Gegenwart, München 1961, S. 223 f.