Die Galerie des 20. Jahrhunderts in West-Berlin
Ein Provenienzforschungsprojekt


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Lyonel Feininger (1871–1956)
Kirche von Niedergrunstedt, 1919

Öl auf Leinwand
101 x 125 cm

Standort
Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin

1949 erworben durch das Land Berlin
Ankaufspreis: 6.000 DM

Weitere Werkdaten

Abweichende Titel
Niedergermstädt

Bezeichnung Vorderseite / Sichtfläche
unten links: Feininger / 1919

Inventarnummern
Staatliche Museen zu Berlin: B 23
Inventar Land Berlin: 23
Weitere Nummern: 5/15

Werkverzeichnis-Nummer
Hess WV 199

Foto: Anders, Jörg P. / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016
Provenienz
1928 Sammlung Helene und Hermann Mayer-Freudenberg, Berlin-Nikolassee L7 Q5
1931 bis mindestens 6.2.1932 Maria Miriam Daus, geb. Freudenberg, Berlin-Nikolassee L6 Q2 Q3 Q4
Ende 1932 bis Anfang 1933 Galerie Ferdinand Möller, Berlin (Aufkleber) Q9
17.1.1933 verkauft durch die Galerie Ferdinand Möller Q10
1949 Galerie Franz, Berlin Q1 Q14 Q15
1949 bis 1968 Galerie des 20. Jahrhunderts, Berlin, erworben bei der Galerie Franz Q1
seit 1968 als Dauerleihgabe des Landes Berlin in der Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
„Es handelt sich hier um ein seltenes Hauptwerk Feiningers aus seiner Frühzeit“, so stellte Adolf Jannasch das Gemälde „Kirche in Niedergrunstedt“ im Juli 1949 der Ankaufskommission der Galerie des 20. Jahrhunderts, die Anfang des Jahres im Westen Berlins neu gegründet worden war, vor.Q6 Das 1919 entstandene Bild erscheint heute in der Gesamtschau des Bestandes geradezu als das dynamische Gegenstück zum statisch beruhigten, zeitentrückten Gemälde „Teltow II“ von 1918. Doch 1949 waren die Werke nicht unmittelbar als Bezugspunkte wahrnehmbar, da sie sich auf verschiedenen Seiten in der geteilten Stadt Berlin befanden: „Teltow II“, das bereits 1921 durch die Nationalgalerie erworben und 1937 als „entartet“ beschlagnahmt worden war, kehrte – nahezu zeitgleich zur Erwerbung der „Kirche von Niedergrunstedt“ in West-Berlin, nämlich im Sommer 1949 – zurück auf die Museumsinsel in Ost-Berlin und wurde dem dort verbliebenen Bestand der Galerie des 20. Jahrhunderts zugeschlagen.

Lyonel Feininger hatte seit 1906 durch seine Frau Julia die thüringischen Dörfer in der Umgebung von Weimar kennengelernt, darunter Gelmeroda, dessen Dorfkirche zu einem der Leitmotive seiner Kunst wurde. Auch die Kirche von Niedergrunstedt hat Feininger mehrfach in Zeichnungen, Radierungen und Gemälden wiedergegeben.

1931 wurden die Werke „Teltow II“ und „Kirche von Niedergrunstedt“ erstmals gemeinsam in einer Ausstellung in der Nationalgalerie präsentiert, letzteres als Leihgabe aus Privatbesitz. Aber schon drei Jahre zuvor war die „Kirche von Niedergrunstedt“ im Kronprinzenpalais zu sehen gewesen. Im Katalog der „Ausstellung neuerer deutscher Kunst aus Berliner Privatbesitz“, die im April 1928 in einem ersten Teil stattfand (ein zweiter folgte im Juli des Jahres), wird Frau Hermann Mayer-Freudenberg aus Berlin-Nikolassee als Leihgeberin genannt.L7 Im Schriftwechsel zur Ausleihe des Bildes (hier fälschlicherweise als „Kirche von Niederprunstedt“ bezeichnet) wird konsequent ihr Mann als Leihgeber bezeichnet, was letztlich das Eigentum des Bildes bei dem Ehepaar Helene und Hermann Mayer-Freudenberg belegt.Q5

1931 nun führt der Katalog der Feininger-Ausstellung Maria Daus aus Berlin-Nikolassee als Leihgeberin des Gemäldes auf.L6 Der Schriftwechsel zum Leihverkehr dokumentiert dies ebenfalls mehrfach: Bereits im Vorfeld der Ausstellung hatte Julia Feininger der Nationalgalerie eine „liste der berliner sammler mit der angabe der bilder, die sie besitzen“ übersandt, auf der Maria Daus, Nikolassee, Sudetenstraße 54, als Eigentümerin auftaucht.Q3 Die Beziehung zwischen Maria Daus und dem Ehepaar Mayer-Freudenberg erklärt sich familiär: Maria Daus, geborene Freudenberg, war die Schwester von Helene Mayer-Freudenberg, weitere Geschwister waren Johanna Mayer, geborene Freudenberg, und Dr. Georg Freudenberg. Ihr Vater, Hermann Freudenberg, war, gemeinsam mit Dr. Julius Freudenberg und einem weiteren Gesellschafter, Inhaber des Berliner Mode- und Möbelhauses Herrmann Gerson gewesen.Q18 Im Mai 1928 heiratete Maria Freudenberg den Ingenieur Heinz Erwin Daus, das Ehepaar vereinbarte Gütertrennung. Maria Daus war anteilig am Firmenvermögen beteiligt sowie Miteigentümerin von Grundstücken in Berlin, die durch die Firma Herrmann Gerson genutzt wurden.Q18

Die Jüdin Maria Miriam Daus entschloss sich mit ihrer Familie bereits Ende 1933 zur Ausreise und emigrierte mit ihrem Mann nach Palästina. Um das zur Gründung einer neuen Existenz in Palästina von der englischen Regierung verlangte finanzielle Polster in Höhe von 14.000 RM aufbringen zu können, verkauften sie Möbel, Einrichtungsgegenstände und wertvolle Ölgemälde, wie Maria Daus im November 1933 gegenüber dem Landesfinanzamt angab.Q8 1964 erhielten sie eine Entschädigung für den gesamten Hausrat in Höhe von 2.000 DM (vgl. Entschädigungsakten, freundliche Auskunft von Monika Tatzkow, 13.3.2008). Diese Tatsachen legen durchaus den Schluss nahe, dass sie auch das Feininger-Gemälde im Zuge der Vorbereitung ihrer Emigration veräußerten. Der Recherche nach den genauen Umständen des Verkaufs galt deshalb bereits 2008 und 2009, vor Beginn des Provenienzforschungsprojektes, besondere Sorgfalt. Der Schriftwechsel zum Leihverkehr der Feininger-Ausstellung weist für den 6. Februar 1932 die Rückgabe des Gemäldes an Maria Daus nach, an einen Boten: „Hierdurch bitte ich höfl[ich] Überbringer dieses das Bild L. Feininger: Kirche von Nieder-Grunstedt, das Ihnen von mir für eine Feininger-Ausstellung überlassen worden war, zu übergeben. Hochachtungsvoll, Maria Daus“.Q4

Die nächste Spur in der Historie des Gemäldes führt zum Berliner Kunsthändler Ferdinand Möller, dessen Etikett auch auf dem Außenrahmen des Bildes zu finden ist.(Rückseite) Offenbar bestand schon seit 1921 ein Kontakt zwischen der Familie Freudenberg und Ferdinand Möller. Im Archiv der Galerie Ferdinand Möller sind verschiedentliche Leihgaben von Werken aus dem Familienbesitz Freudenberg zu Ausstellungen Möllers und Besuche in der Galerie belegt.Q7 Hier findet sich auch der Nachweis, dass das Gemälde schon vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten verkauft wurde. Offenbar war Möller bereits 1932 mit dem Verkauf beauftragt worden, spätestens im Dezember des Jahres, als er es an den Sammler Max Fischer in Berlin zur Ansicht sandte. Von diesem erhielt er es am 2. Januar 1933 wieder zurück (hier irrtümlich als „Kirche von Niedergermstädt“ bezeichnet).Q9 Nur kurze Zeit später – und noch vor dem 30. Januar 1933 – gelang Möller der Verkauf, wie eine überlieferte Karteikarte zur „Kirche von Niedergrunstedt“ in seinem Galerienachlass belegt: Rückseitig ist hier von Ferdinand Möller mit Bleistift vermerkt worden: „verkauft 17.1.1933“.Q10 Wer allerdings im Januar 1933 das Gemälde erworben hat, konnte bisher trotz vielfacher Recherchen nicht ermittelt werden. Hier verliert sich die Spur des Bildes; erst 1949 tauchte es im Berliner Kunsthandel wieder auf. Es könnte zuvor bei dem Kunsthändler Rudolf Springer gewesen sein, der im Juli 2008 bei einer Befragung als Zeitzeuge, damals 99-jährig, nach Vorlage einer Abbildung des Gemäldes erklärte, dass er dieses Bild 1948 an den Kunsthändler und -sammler Heinz Berggruen verkauft habe (freundliche Auskunft von Wolfgang Schöddert, Berlinische Galerie, 29.4.2009).

Für 6.000 DM wurde „Kirche von Niedergrunstedt“ am 8. Juli 1949 für die Galerie des 20. Jahrhunderts erworben. Als Verkäufer des Gemäldes gilt laut Ankaufsakten und Inventar die Berliner Galerie Franz.Q1 Q14 Q15 Als Vermittler trat allerdings die Kunsthandlung Reitzenstein & Co auf, die Verhandlungen führte Eberhard Seel.Q11 Q12

Recherche: Wolfgang Schöddert, Berlinische Galerie/CT | Text: Petra Winter

Keilrahmen oben links, Kohle, von Künstlerhand: Kirche von Niedergrunstedt
Keilrahmen oben rechts, Bleistift: […]denberg
Keilrahmen oben Mitte, Aufkleber: Atege – München, Kunst- und Verpackungsabteilung, Kirche von Niedergrundstedt, Maler: Feininger, Lyonel. […]ort: Nr. 55/3
Keilrahmen unten rechts, Aufkleber der Galerie des 20. Jahrhunderts mit Inv.-Nr.: Ga. – 5/15 [und Kat.-Nr.] 12
Außenrahmen oben rechts [unter dem Stuttgart-Aufkleber, s. u.], Aufkleber der Galerie Ferdinand Möller: Lyonel Feininger / Kirche in Niedergrunstedt
Rahmen Schmalseite unten, kleiner ältlicher runder Aufkleber mit Nummer: 32
weitere Aufkleber aus der Nachkriegszeit auf Keilrahmen und Rahmen: Ausst. Ingelheim 1985; Stuttgart Nr. 791 (Württembergischer Kunstverein); Schenker & Co. [zur 15. Europäischen Kunstausstellung Berlin]; Rom (Mostra d’arte Germanica contemporanea, 1958); Montreal Museum of Fine Arts; Sydney [am Rahmen rechts außen]; runder gelber Aufkleber mit Nummer: 214

Rückseite
Foto: Kilger, Andres
Rückseite
Foto: Kilger, Andres
Rückseite komplett
Foto: Kilger, Andres

Q1 Inventarverzeichnis für Kunstwerke Berlins in der Nationalgalerie B 3000/306 [Inventar der Galerie des 20. Jahrhunderts (West)], 2 Bde., 1949–1982, Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten, Berlin, Eintrag vom 8.7.1949

Q2 Akte der Feininger-Ausstellung, Nationalgalerie, 1931, Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, I/NG 731, Bl. 23 [Versicherung]

Q3 Akte der Feininger-Ausstellung, Nationalgalerie, 1931, Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, I/NG 731, Bl. 55 f. [darin Maria Daus als potenzielle Leihgeberin]

Q4 Akte der Feininger-Ausstellung, Nationalgalerie, 1931, Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, I/NG 731, Bl. 173 f. [Ausleihe 1931 und Rückgabe 1932]

Q5 Akte der Ausstellung „Nach-Impressionistische Kunst aus Berliner Privatbesitz“, Nationalgalerie, 1928, Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, I/NG 719, Bl. 342–344 [Leihvorgang Mayer-Freudenberg]

Q6 Protokoll der Sitzung der Ankaufskommission für Kunstwerke des Magistrats von Gross-Berlin am 8.7.1949, Landesarchiv Berlin, B Rep. 014-1446

Q7 Brief Erna Casper an Ferdinand Möller, 15.12.1923, Berlinische Galerie, Ferdinand-Möller-Archiv, BG-KA-N/F.Möller-210-M80, Bl. 163 f. [Erwähnung Freudenberg auf Bl. 163]

Q8 Brief Maria Daus an das Landesfinanzamt Berlin [im Zusammenhang mit Auswanderung], 30.11.1933, Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Rep. 36 A, Nr. A 754

Q9 Brief Ferdinand Möller an Dr. Max Fischer, Berlin-Schlachtensee [Durchschlag], 2.1.1933, Berlinische Galerie, Ferdinand-Möller-Archiv, BG-GFM-C, II 1, 175

Q10 Galerie Ferdinand Möller, Karteikarte zur „Kirche von Niedergrunstedt“ [rückseitige Beschriftung von Ferdinand Möller: „verkauft 17.1.1933“], Berlinische Galerie, Ferdinand-Möller-Archiv, BG-KA-N/F.Möller-KK3,21

Q11 Brief Reitzenstein & Co, Eberhard Seel, an Adolf Jannasch, 25.6.1949, Landesarchiv Berlin, B Rep. 014-1626

Q12 Empfangsbestätigung Adolf Jannasch an Reitzenstein-Seel, 5.7.1949, Landesarchiv Berlin, B Rep. 014-1626

Q13 Protokoll der Übergabe der Bestände der Galerie des 20. Jahrhunderts an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz [Gemälde und Skulpturen aus den Verwaltungs- und Ausstellungsräumen der Galerie], 5.6.1968, Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, S. 2

Q14 Ankaufsbestätigung, Brief Adolf Jannasch an die Galerie Franz, 9.7.1949, Landesarchiv Berlin, B Rep. 014-1445

Q15 Quittung Galerie Franz, 7.7.1949, Landesarchiv Berlin, B Rep. 014-1732

Q16 Nachweisaufstellung der Zahlungsempfänger 1949 bis 1951, 27.4.1951, Landesarchiv Berlin, B Rep. 014-1446

Q17 Revisionsliste der „noch auf Lager befindlichen Gemälde in der Nationalgalerie, dem Kronprinzenpalais und der Bildnis-Sammlung“, erstellt zwecks Aktualisierung der Versicherungspolicen, 13.11.1931, Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, I/NG 858, Bl. 360 [darin: Kirche von Niedergrunstedt, Prov.-Nr. 1926, lfd. Nr. 84, 3.9.1931, 2.000,-, KP]

Q18 Akten der Berliner Handels-Gesellschaft, Herrmann Gerson, mehrere Bde., 1910 bis mindestens 1938, Bundesarchiv Berlin, R 8127, Nr. 14086, 14087, 14091, 16754

L1 Die Galerie des 20. Jahrhunderts. Katalog, hrsg. vom Senator für Volksbildung, Berlin 1953, Nr. 12

L2 Die Galerie des 20. Jahrhunderts. Katalog, hrsg. vom Senator für Volksbildung, Berlin 1958, Nr. 33

L3 Die Galerie des 20. Jahrhunderts. Katalog, hrsg. vom Senator für Volksbildung, Berlin 1960, Nr. 34

L4 Die Galerie des 20. Jahrhunderts. Katalog, hrsg. vom Senator für Volksbildung, Berlin 1963, Nr. 43

L5 Verzeichnis der Vereinigten Kunstsammlungen: Nationalgalerie (Preußischer Kulturbesitz) und Galerie des 20. Jahrhunderts (Land Berlin), hrsg. von den Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz, Berlin 1968, S. 60

L6 Lyonel Feininger, Ausst.-Kat. Nationalgalerie Berlin 1931, Nr. 73

L7 Ausstellung neuerer deutscher Kunst aus Berliner Privatbesitz, Ausst.-Kat. Nationalgalerie Berlin 1928, Nr. 17

L8 Hans Hess, Lyonel Feininger [Werkverzeichnis der Ölgemälde, erarbeitet mit Julia Feininger], Stuttgart 1959, Nr. 199, Schwarz-Weiß-Taf. Nr. 22 („1. Mayer-Freudenberg, Berlin; 2. Maria Daus, Berlin, Nikolassee; 3. Galerie des XX. Jahrhunderts, Berlin“)