Die Galerie des 20. Jahrhunderts in West-Berlin
Ein Provenienzforschungsprojekt


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Otto Mueller (1874–1930)
Badende im Schilfgraben, um 1924

Leimfarbe auf Rupfen
92 x 79 cm

Standort
Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin

1955 erworben durch das Land Berlin
Ankaufspreis: 3.000 DM

Weitere Werkdaten

Abweichende Titel
Zwei Badende im Schilf; Badende; Zwei Mädchen am See; Badende am See; Mädchen am See

Bezeichnung Vorderseite / Sichtfläche
unten links: O. M.

Inventarnummern
Staatliche Museen zu Berlin: B 126
Inventar Land Berlin: 126
Weitere Nummern: 20/1

Werkverzeichnis-Nummer
Lüttichau/Pirsig WV 157

Foto: Sachsse, Rolf / CC BY-NC-SA
Provenienz
bis 1931 Prof. Dr. Ernst Jost, Königsberg Q5 L1 Q16
April 1931 bis 1937 Schlesisches Museum der Bildenden Künste Breslau Q6 Q12 Q13 Q15 Q16
1937 bis 16.7.1940 Deutsches Reich/Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, Berlin, als „entartet“ beschlagnahmt im Schlesischen Museum der Bildenden Künste Q7 Q15 Q16
1937 bis 1940 Depot Schloss Schönhausen, Berlin, Lagerung „international verwertbarer“ Kunstwerke Q15
ab 16.7.1940 Bernhard A. Böhmer, Güstrow Q11 Q12 Q13
um 1940/41 bis 1955 Ursula Baring, Güstrow und Dresden Q19
1955 bis 1968 Galerie des 20. Jahrhunderts, Berlin, erworben von Ursula Baring über Elisabeth Renger, Berlin Q1 Q2 Q10
seit 1968 als Dauerleihgabe des Landes Berlin in der Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
Als 1931 in der Berliner Nationalgalerie eine große Gedächtnisausstellung für den im Jahr zuvor verstorbenen Künstler Otto Mueller gezeigt wurde, übernahm das Haus einen Teil der Werke aus der zuvor im Schlesischen Museum der Bildenden Künste in Breslau ausgerichteten Schau. Unter den in beiden Städten präsentierten Werken befanden sich die „Badenden im Schilfgraben“, die Professor Ernst Jost aus Königsberg als Leihgabe beigesteuert und im Verlauf der Ausstellung dem Breslauer Museum verkauft hatte.L1 Q5

Ernst Jost war nach seiner Assistenzzeit an den Sternwarten Gotha und Straßburg als Astronom und Observator an der Universitäts-Sternwarte zu Königsberg angestellt worden. Von 1929 bis 1934 schließlich lehrte er als Professor an der dortigen Philosophischen Fakultät (freundliche Mitteilung von Anna Karpińska, Archiwum Państwowe, Olsztyn, 29.7.2011).Q17 Im Rahmen der Otto-Mueller-Retrospektive entschloss er sich zum Verkauf seines Gemäldes an das Schlesische Museum in Breslau, das laut Akzessionsbuch 2.000 Mark in die Erwerbung investierte.Q16 Dort wurde das unter der Nummer 24165 inventarisierte Gemälde 1937 im Zuge der Aktion „Entartete Kunst“ beschlagnahmt (Beschlagnahmeverzeichnis-Nr. 7947) und zur vorläufigen Verwaltung dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda übergeben.Q6 Q7 Q12 Q13

Im Januar 1940 wurde das bis dahin als „international verwertbares Kunstwerk“ im Berliner Depot Schloss Schönhausen eingelagerte Gemälde zunächst in Kommission an den Kunsthändler Bernhard A. Böhmer übergeben, einen der vier Kunsthändler, die das Deutsche Reich mit der „Verwertung“ der „entarteten“ Kunst beauftragt hatte.L13 Q12 Q15 Ein halbes Jahr später erwarb er das Bild vom Reichsministerium über einen Tauschvertrag, der ihm für ein Gemälde von Carl Gustav Carus, „Heimkehr der Mönche“, „entartete“ Kunst im Wert von insgesamt 8.000 RM zusprach.Q13

Adolf Jannasch kaufte die „Badenden im Schilfgraben“ jedoch aus den Händen der Sammlerin Ursula Baring,Q19 einer Nichte des Hamburger Landgerichtsdirektors Gustav Schiefler, der sich seinerzeit insbesondere als Mäzen der Künstlergemeinschaft Brücke und Edvard Munchs verdient gemacht hatte. Baring hatte sich 1939 vorübergehend in Güstrow niedergelassen und befreundete sich dort mit Marga Böhmer, der Ehefrau des Kunsthändlers. Von diesem erwarb Baring das Bild um 1940/41 für 450 RM.L7 Wie sie dem Kunsthistoriker Hans Wentzel 1949 mitteilte, hatte sie durch die Verbindung zur Familie Böhmer während der Kriegsjahre ausgiebig Gelegenheit, Werke „entarteter“ Künstler kennenzulernen, sodass sie sich 1949 inspiriert fühlte, ihr durch den Krieg unterbrochenes Studium der Kunstgeschichte mit einer Abschlussarbeit über Otto Mueller zu beenden.Q18 Als Baring 1945 von Güstrow nach Dresden umzog, war sie jedoch noch als Krankengymnastin tätig. In ihrer Privatpraxis organisierte sie wechselnde Kunstausstellungen, die sie aus ihrer Kollektion bestückte.L7

Den größten Teil der Sammlung Baring übernahm 2002 das Stadtmuseum Dresden. Zu dem Verkauf der „Badenden im Schilfgraben“ hatte Baring jedoch bereits 1955 eine wirtschaftliche Notlage gezwungen (freundliche Mitteilung von Johannes Schmidt, Städtische Galerie Dresden).Q2 Q11 L7 Laut Inventar der Galerie des 20. Jahrhunderts erfolgte der Verkauf über Elisabeth Renger, wohl eine Freundin Barings, bei der sie während ihrer Berlin-Aufenthalte wohnte und deren Adresse Treuchtlingerstraße 8 sie auch Jannasch als Kontaktanschrift angab.Q1 Q10 Vermutlich spielte Renger eine Art Vermittlerrolle bei dem Transfer des Bildes aus der DDR in die BRD, die im Detail heute nicht mehr rekonstruierbar ist.

Recherche: HS | Text: HS

Leinwand Mitte: Otto Mueller

Q1 Inventarverzeichnis für Kunstwerke Berlins in der Nationalgalerie B 3000/306 [Inventar der Galerie des 20. Jahrhunderts (West)], 2 Bde., 1949–1982, Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten, Berlin, Eintrag vom 8.2.1955

Q2 Karteikarte Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie

Q3 Protokoll der Übergabe der Bestände der Galerie des 20. Jahrhunderts an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz [Gemälde und Skulpturen aus den Verwaltungs- und Ausstellungsräumen der Galerie], 5.6.1968, Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, S. 2

Q4 Liste Platten – Kasten III, Galerie M–R, Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, Ordner B: Vereinigte Kunstsammlungen

Q5 Acta betreffend Ausstellung für Otto Mueller 1931, Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, I/NG 732, Bl. 38 ff., 109 ff.

Q6 Werkfotografie mit rückseitigem Besitzvermerk, Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, V/Sammlung Künstler: Mueller, Otto

Q7 Liste der beschlagnahmten Werke (international verwertbar), o. D., Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, I/NG 866, Bl. 75

Q8 Protokoll der Ankaufskommission, 18.2.1955, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 04-0200-02-098.1 f.

Q9 Liste Platten – Kasten I, Galerie A–K, 25.7.1957, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 02-0204-02-040.1 bis -040.3, Nr. 56

Q10 Bescheinigung über die Unterstellung des Gemäldes im Depot Messedamm, 29.12.1954, Landesarchiv Berlin, B Rep. 014-1361

Q11 Telefonnotiz Adolf Jannasch, 18.12.1954, Landesarchiv Berlin, B Rep. 014-1361

Q12 Nachtrag zur Kommissionsliste von Werken entarteter Kunst bei Kunsthändler Bernhard A. Böhmer, 13.1.1940, Bundesarchiv Berlin, R 55/21019, Bl. 40 v., 42

Q13 Tauschvertrag zwischen Bernhard A. Böhmer und dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, 16.7.1940, Bundesarchiv Berlin, R 55/21019, Bl. 152, 154

Q14 Verzeichnis beschlagnahmter Kunstwerke, Reichministerium für Volksaufklärung und Propaganda, Bundesarchiv Berlin, R 55/20745, Bl. 56

Q15 Liste Bestand Niederschönhausen, Bundesarchiv Berlin, R 55/21015, Bl. 42

Q16 Akzessionsbuch des Schlesischen Museums Breslau, acc. 24165, Herder-Institut Marburg, DSHI 100 Grundmann 197-205

Q17 Personal-Verzeichnis für das Wintersemester 1929/30 bis Wintersemester 1933/34, Albertus-Universität zu Königsberg i. Pr., Staatsbibliothek zu Berlin, Ah13024-1929/34

Q18 Brief Ursula Baring an Hans Wentzel, 25.3.1949, Deutsches Kunstarchiv Nürnberg, NL Wentzel, Hans, I,C-46

Q19 Brief Ursula Baring an Adolf Jannasch, 7.9.1959, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 03-0401-02-075.3

L1 Gedächtnisausstellung Otto Müller 1874–1930, Ausst.-Kat. Schlesisches Museum der Bildenden Künste Breslau 1931, Nr. 39

L2 Otto Mueller. Gedenk-Ausstellung, Ausst.-Kat. Nationalgalerie Berlin 1931, Nr. 2

L3 Die Galerie des 20. Jahrhunderts. Katalog, hrsg. vom Senator für Volksbildung, Berlin 1958, Nr. 133

L4 Die Galerie des 20. Jahrhunderts. Katalog, hrsg. vom Senator für Volksbildung, Berlin 1960, Nr. 145

L5 Die Galerie des 20. Jahrhunderts. Katalog, hrsg. vom Senator für Volksbildung, Berlin 1963, Nr. 170

L6 Verzeichnis der Vereinigten Kunstsammlungen: Nationalgalerie (Preußischer Kulturbesitz) und Galerie des 20. Jahrhunderts (Land Berlin), hrsg. von den Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz, Berlin 1968, S. 152

L7 Hans-Ulrich Lehmann, Ursula Baring. Salon und Sammlung, in: Ohne uns! Kunst & alternative Kultur in Dresden vor und nach ’89, hrsg. von Frank Eckhardt und Paul Kaiser, Ausst.-Kat. Motorenhalle Dresden 2009, S. 34–41, hier S. 35

L8 „Degenerated Art“. The Fate of the Avant-Garde in Nazi Germany, hrsg. von Stephanie Barron, Ausst.-Kat. Los Angeles County Museum of Art 1991, S. 61, 310

L9 Christoph Zuschlag, „Entartete Kunst“. Ausstellungsstrategien im Nazi-Deutschland, Worms 1995, S. 195

L10 Poelzig, Endell, Moll und die Breslauer Kunstakademie. 1911–1932, hrsg. von Herta Elisabeth Killy, Peter Pfankuch und Dirk Scheper, Ausst.-Kat. Akademie der Künste Berlin; Städtisches Museum Mühlheim an der Ruhr; Stadthalle Darmstadt, Berlin 1965, Nr. 86, Farbtaf. S. 65

L11 Otto Mueller. 1874–1930. Gemälde, Aquarelle, Handzeichnungen, Lithographien, Ausst.-Kat. Städtische Kunstsammlungen Chemnitz – Schloßberg-Museum; Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Dresden 1947, Nr. 12

L12 Mario-Andreas von Lüttichau und Tanja Pirsig, Otto Mueller. Werkverzeichnis mit CD-ROM, München u. a. 2003, Nr. 157

L13 Meike Hoffmann (Hrsg.), Ein Händler „entarteter“ Kunst. Bernhard A. Böhmer und sein Nachlass, Berlin 2010