Die Galerie des 20. Jahrhunderts in West-Berlin
Ein Provenienzforschungsprojekt


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Georges Rouault (1871–1958)
Frau, geschminkt für den Jahrmarktzirkus, 1911

Öl und Gouache auf Karton
39,2 x 29 cm

Standort
Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin

1960 erworben durch das Land Berlin
Ankaufspreis: 58.050 DM

Weitere Werkdaten

Abweichende Titel
Cirque Forain. Maquillage; Tête de Femme; Make up, cirque forain; Circus performer

Bezeichnung Vorderseite / Sichtfläche
oben links: G. Rouault 1911

Inventarnummern
Staatliche Museen zu Berlin: B 476
Inventar Land Berlin: 476
Weitere Nummern: 35/476

Werkverzeichnis-Nummer
Rouault WV 701

Foto: Liepe, Jürgen / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016
Provenienz
spätestens 1930 bis um 1941/42 J. B. Neumann, New York L4 L5
um 1941/42 bis 1960 Maria Martins, Washington/D.C./Paris/Rio de Janeiro L6 Q6
1960 Galerie d’art moderne, Basel, in Kommission für Maria Martins Q1
1960 bis 1968 Galerie des 20. Jahrhunderts, Berlin, erworben mit Unterstützung der Deutschen Klassenlotterie bei der Galerie d’art moderne Q1
seit 1968 als Dauerleihgabe des Landes Berlin in der Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
Im Jahr 1960 erwarb Adolf Jannasch, der stets bestrebt war, den Anteil von Kunst der europäischen Moderne in der Sammlung zu erhöhen, diesen Frauenkopf in Öl von dem französischen Maler Georges Rouault bei der Galerie d’art moderne in Basel.Q1 Das Bild stamme „aus der Sammlung von Frau Carlos Martins“, informierte die dortige Galeristin Marie-Suzanne Feigel ihn am 13. Mai 1969 (Bl. 19-2.14).Q6

Die Brasilianerin Maria Martins Pereira e Sousa (1894–1973) war Bildhauerin und seit 1926 Ehefrau des brasilianischen Botschafters in den USA, Carlos Martins. Aufgrund der zahlreichen, dem Botschafterleben geschuldeten Ortswechsel hatte Maria außer in den Vereinigten Staaten (1939–1948 Washington/D. C.) zuvor bereits in Paris, Holland, Belgien, Dänemark und Japan gelebt.L9 „Maria“ (wie sie sich als Künstlerin nannte), besaß eine frankophile Ader: In den frühen 1930er-Jahren hatte sie zeitweise bei Catherine Barjanski in Paris studiert und surrealistische Wege eingeschlagen. 1942 traf sie im Zuge einer Ausstellung ihres Werks in New York die wichtigsten Vertreter der Surrealisten-Szene in Frankreich (darunter André Breton, André Masson, Yves Tanguy und Marcel Duchamp), 1947 stellte sie gemeinsam mit ihnen in der großen Surrealisten-Schau in Paris aus. Ihr Atelier in der amerikanischen Botschaftervilla nannte sie „my own Montparnasse“. 1948 schließlich zog Maria Martins von Washington nach Paris und stand fortan in engem Kontakt mit dort ansässigen Künstlern. 1950 kehrte sie zurück in ihr Geburtsland Brasilien. Durch ihren langjährigen Kontakt mit zahlreichen Künstler-Kollegen konnte Maria Martins eine eigene Kunstsammlung aufbauen, aus der sie gelegentlich Werke an Museen auslieh;L10 manche von ihnen verkaufte sie an öffentliche Institutionen – wie im Falle von Rouaults „Frau, geschminkt für den Jahrmarktzirkus“, den sie an die Galerie des 20. Jahrhunderts abgab.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass Martins das Bild um 1941/42 von J. B. Neumann in New York erwarb, in dessen Galerie es sich in den 1930er-Jahren befand. Neumann, der 1923 in die Staaten übergesiedelt war und seine deutschen Galerien in die Hände von Karl Nierendorf (Berlin) und Günther Franke (München) gegeben hatte, war ein leidenschaftlicher Anhänger der Kunst von Rouault. 1925 hatte er dessen Vertretung übernommen und sein Werk vielfach ausgestellt. Zwischen 1926 und 1935 standen er und der Künstler in engem Briefkontakt, da Neumann einen Werkkatalog der rouaultschen Druckgraphik publizieren wollte. In seinen Memoiren („Confessions of an Art Dealer“, The Museum of Modern Art Archives, New York, J. B. Neumann Papers) widmete er dem Künstler ein ganzes Kapitel. Auf der umfangreichen Rouault-Retrospektive, die er 1930 mit Franke in München veranstaltete, wurde unser Gemälde mit der Zirkusfrau aus seinem Besitz gezeigt,L4 ebenso auf einer Rouault-Ausstellung, die 1940/41 in Boston, Washington und San Francisco zu sehen war.L5 Neumanns Leidenschaft für Rouault sprang auch über auf Alfred H. Barr, den Direktor des Museum of Modern Art in New York, der 1945 in seinem Museum eine große Rouault-Ausstellung organisierte.L6 Hier war „Frau, geschminkt für den Jahrmarktzirkus“ als Leihgabe aus dem Besitz Martins’ gekennzeichnet. Vermutlich hatte Maria Martins das Bild auf der Ausstellung in Washington gesehen und im Anschluss daran von Neumann erworben, möglicherweise als sie sich 1942 während der großen Surrealisten-Ausstellung „First Papers of Surrealism“, an der sie beteiligt war, ohnehin in New York aufhielt.

Recherche: CT | Text: CT

Schutzbrett oben rechts: Aufkleber der Galerie des 20. Jahrhunderts
Schutzbrett unten rechts: Aufkleber der Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin
Rahmen unten, Brennstempel: Wortmann Basel
Rahmen rechts, Bleistift: [unleserlich]
Rahmen links und Bildrückseite, je ein identischer kleiner Rundstempel: Zoll I-10 [schweizerisch]
oben Mitte: teils abgerissener Aufkleber [französisch]
oben rechts, Aufkleber: Museum of Modern Art [New York] LOAN 45.143
oben, rechteckiger Aufkleber: No. 44143 picture
rechts, rechteckiger Aufkleber mit Bezeichnung, Bleistift: Bo[…]-12 [unleserlich]
Mitte: zwei ovale Aufkleber, weiß und rot, von Chenue, Emballeur, Rue de la Terrasse, Paris; Beschriftung, blau: 4; ein Aufkleber, teilweise abgerissen, Bezeichnung, handschriftlich: […] Denet [?] […]
rechts, handschriftlich, blau: No 46/6
Mitte, runder weißer Aufkleber mit Stempel: Douanes Paris

Rückseite
Foto: Neue Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin
Rückseite mit Schutzbrett
Foto: Neue Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin

Q1 Inventarverzeichnis für Kunstwerke Berlins in der Nationalgalerie B 3000/306 [Inventar der Galerie des 20. Jahrhunderts (West)], 2 Bde., 1949–1982, Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten, Berlin, Eintrag vom 14.6.1960

Q2 Protokoll der Übergabe der Bestände der Galerie des 20. Jahrhunderts an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz [Gemälde und Skulpturen aus den Verwaltungs- und Ausstellungsräumen der Galerie], 5.6.1968, Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, S. 2

Q3 Protokoll der Ankaufskommission, 10.6.1969, Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, II/VA 6754, Bl. 71, und Landesarchiv Berlin, B Rep. 002-11248 und B Rep. 014-1893

Q4 Liste Platten – Kasten III, Galerie M–R, Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, Ordner B: Vereinigte Kunstsammlungen

Q5 Ankaufsbestätigung von Adolf Jannasch an die Deutsche Klassenlotterie, 8.7.1960, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 04-0700-15-017

Q6 Frachtscheine, Zollschein Schweiz, Korrespondenz zwischen Adolf Jannasch und der Galerie d’art moderne, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 04-0700-15-019

Q7 Übersicht Rechnungsjahr 1960, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 10-0302-05-382

Q8 Archiv der Fondation Rouault, Paris, freundliche Auskünfte von Gilles Rouault im März und April 2012

L1 Die Galerie des 20. Jahrhunderts. Katalog, hrsg. vom Senator für Volksbildung, Berlin 1960, Nr. 167

L2 Die Galerie des 20. Jahrhunderts. Katalog, hrsg. vom Senator für Volksbildung, Berlin 1963, Nr. 195

L3 Verzeichnis der Vereinigten Kunstsammlungen: Nationalgalerie (Preußischer Kulturbesitz) und Galerie des 20. Jahrhunderts (Land Berlin), hrsg. von den Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz, Berlin 1968, S. 176 f.

L4 Georges Rouault, hrsg. von I. B. Neumann und Günther Franke, Ausst.-Kat. Graphisches Kabinett München (The Art Lover Library, 4), New York und München 1930, Nr. 20 (mit Abb.: „Cirque Forain. Maquillage“, keine weiteren Angaben)

L5 Georges Rouault, Ausst.-Kat. Boston, Washington und San Francisco 1940, Nr. 36 (mit Abb.: „Circus performer“, 1911, 14 x 11 inches, „Lent by J. B. Neumann, New York“)

L6 Georges Rouault, Ausst.-Kat. The Museum of Modern Art New York 1945, S. 56, Nr. 28 (mit Abb.: „Make up, Cirque forain“, 1911, 14 x 11 inches, Leihgabe aus der „Collection Mme. Carlos Martins, Washington, D. C.“)

L7 Isabelle Rouault, Georges Rouault. L’Œuvre peint, Monaco und Paris 1988, Nr. 701 (keine Provenienzangabe; Format hier angegeben mit 38 x 27,3 cm)

L8 Galerie d’art moderne, Ausst.-Kat. Basel 1960, Nr. 22

L9 „Maria, wife of Brazil envoy, leads two lives for art and diplomacy“, in: Life Magazine, 8.12.1941, S. 154–157

L10 Maria. The Surrealist Sculpture of Maria Martins, Ausst.-Kat. André Emmerich Gallery New York 1998