Die Galerie des 20. Jahrhunderts in West-Berlin
Ein Provenienzforschungsprojekt


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Ernst Wilhelm Nay (1902–1968)
Ostseefischer, 1937

Öl auf Leinwand
105,5 x 141 cm

Standort
Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin

1952 erworben durch das Land Berlin
Ankaufspreis: 2.000 DM

Weitere Werkdaten

Bezeichnung Vorderseite / Sichtfläche
unten links: E W NAY 37

Inventarnummern
Staatliche Museen zu Berlin: B 63
Inventar Land Berlin: 63
Weitere Nummern: 13/30

Werkverzeichnis-Nummer
Scheibler WV 204

Foto: Anders, Jörg P. / © Elisabeth Nay-Schreiber, Köln / VG Bild-Kunst, Bonn 2016
Provenienz
wohl 1937 bis mindestens 1947 im Besitz des Künstlers
1947 Galerie Franz, Berlin, ausgestellt L6
bis 1952 Galerie Reitzenstein-Seel, Berlin Q1
1952 bis 1968 Galerie des 20. Jahrhunderts, Berlin, erworben bei der Galerie Reitzenstein-Seel Q1
seit 1968 als Dauerleihgabe des Landes Berlin in der Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
Da sein Werk in der NS-Zeit als „entartet“ verfemt wurde, entfloh Ernst Wilhelm Nay 1935 und 1936 dem tristen Alltag in der Großstadt Berlin, indem er mit seiner Frau Elly die Sommermonate in Vietzkerstrand (heute Wicko Morskie, Polen) an der Ostsee verbrachte. Die Aufenthalte inspirierten ihn zu zahlreichen Dünen- und Fischerbildern, die vor Ort oder später im Atelier entstanden. 1937 wohnte Nay zeitweise als Gast von Edvard Munch in Norwegen, wo er, wie erneut im Folgejahr, die Nordmeerinseln besuchte, deren Eindrücke sich in den sogenannten Lofotenbildern niederschlugen. In diese Jahre fallen Nays Gemälde „Stürmische Wellen“ (Inv.-Nr. 963) und „Ostseefischer“ (Inv.-Nr. 63) aus der Galerie des 20. Jahrhunderts. Nach einer Studienreise in Bulgarien 1939 verbrachte der Künstler die Kriegsjahre 1940 bis 1945 als Kartenzeichner im französischen Le Mans. Zu seiner Rückkehr vermittelte Hanna Bekker vom Rath ihm Atelier und Wohnung in Hofheim im Taunus, wo er bis zu seinem Umzug nach Köln 1951 blieb. In jener Zeit etablierte er sich mit zahlreichen Ausstellungen, Galerievertretungen und Verkäufen zu einem der erfolgreichsten zeitgenössischen Maler Deutschlands.

„Ostseefischer“ von 1937 überstand den Krieg in Deutschland. Während der NS-Zeit verkaufte Nay wenig, die meisten Bilder lagerten in seinem Studio, wie Elly Nay sich erinnerte: „Einige seiner schönsten Arbeiten, auch die großen Ostseefischer-Bilder, sind in diesem [Berliner] Atelier entstanden. […] außerdem die berühmten Lofotenbilder, die während der Hitlerzeit auf dem Dachboden in die innere Emigration gingen“ (S. 57).L7 Mithilfe seiner Frau gelang es auch, Nays Kunst vor der Kriegszerstörung zu bewahren. Elly Nay (geb. Helene Kirchner, 1901–1986) hatte folgende Auslagerungen initiiert: zwei Kisten mit Fischer- und Lofotenbildern im Keller des Hauses von Ernst Wilhelms Onkel, Kreispfarrer in Muskau/Niederlausitz; eine Kiste mit Fischerzeichnungen und kleinen Ölbildern in der Villa des Kunsthistorikers Erich Meyer in Berlin-Frohnau; einzelne Aquarelle bei dem Kunsthändler Günther Franke in Seeshaupt am Starnberger See sowie eine Anzahl von Werken bei Verwandten in Berlin-Schmargendorf und in Langensalza/Thüringen (S. 115 f., 140).L7 Am 12. September 1943 konnte Nay somit an Günther Franke schreiben: „Bin in Berlin für einige Tage – ausgebombt. Die Wohnung ist hin, Bilder und Möbel vollständig gerettet“ (S. 174).L8 Zu Ostern 1947 setzte Elly Nay ihre Rettungsaktion fort, indem sie die große in Muskau ausgelagerte Bilderkiste „schwarz über die russische Zonengrenze in den amerikanischen Sektor von West-Berlin“ fuhr (S. 326),L6 wo die Werke 1947 bei der Galerie Franz erstmalig ausgestellt wurden (S. 154–174).L8 Da „Ostseefischer“ im zugehörigen Katalog auftaucht,L6 ist zu vermuten, dass das Bild aus eben jener Kiste stammte und in der Folge an die Berliner Galerie Reitzenstein-Seel gegeben wurde, wo Adolf Jannasch es 1952 erwarb.

Der Kunsthändler Eberhard Seel war seit 1934 befreundet mit Ernst Wilhelm und Elly Nay; 1947 erwarb er erste Werke Nays, die den Grundstock zu einer ansehnlichen privaten Nay-Sammlung bildeten (S. 69).L7 Am 11. Februar 1952, also kurz vor dem Erwerb durch die Galerie des 20. Jahrhunderts, hatte Seel „zwei große Lofotenbilder von Nay“ an die Berliner Galerie Walter Schüler zur Ansicht geschickt, die für je 1.500 DM zu veräußern waren: „Die Nay-Bilder sind billig und hervorragend in der Qualität“ (Privatarchiv, freundliche Auskunft von Ingo Brunzlow im Jahr 2012). Da Schüler sie nicht erwarb, kann es sich bei einem davon gut um unser Bild gehandelt haben.

Recherche: CT | Text: CT

ganzflächig auf der Leinwandrückseite: Ölskizze ähnlicher Thematik
Keilrahmen oben Mitte, Kreide, blau: Nr. 9
Keilrahmen oben rechts: Aufkleber der Galerie des 20. Jahrhunderts
Keilrahmen unten rechts: Aufkleber der Staatlichen Museen zu Berlin

Rückseite
Foto: Neue Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin

Q1 Inventarverzeichnis für Kunstwerke Berlins in der Nationalgalerie B 3000/306 [Inventar der Galerie des 20. Jahrhunderts (West)], 2 Bde., 1949–1982, Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten, Berlin, Eintrag vom 13.3.1952

Q2 Protokoll der Übergabe der Bestände der Galerie des 20. Jahrhunderts an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz [Gemälde und Skulpturen aus den Verwaltungs- und Ausstellungsräumen der Galerie], 5.6.1968, Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, S. 3

Q3 Liste Platten – Kasten III, Galerie M–R, Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, Ordner B: Vereinigte Kunstsammlungen

L1 Die Galerie des 20. Jahrhunderts. Katalog, hrsg. vom Senator für Volksbildung, Berlin 1953, Nr. 54

L2 Die Galerie des 20. Jahrhunderts. Katalog, hrsg. vom Senator für Volksbildung, Berlin 1958, Nr. 138

L3 Die Galerie des 20. Jahrhunderts. Katalog, hrsg. vom Senator für Volksbildung, Berlin 1960, Nr. 151

L4 Die Galerie des 20. Jahrhunderts. Katalog, hrsg. vom Senator für Volksbildung, Berlin 1963, Nr. 176

L5 Verzeichnis der Vereinigten Kunstsammlungen: Nationalgalerie (Preußischer Kulturbesitz) und Galerie des 20. Jahrhunderts (Land Berlin), hrsg. von den Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz, Berlin 1968, S. 163

L6 Aurel Scheibler, Ernst Wilhelm Nay [Werkverzeichnis], Köln 1990, Nr. 204

L7 Elly Nay, Ein strahlendes Weiß, Berlin und Köln 1984

L8 Doris Schmidt (Hrsg.), Briefe an Günther Franke, Köln 1970

L9 Ernst Wilhelm Nay, Lesebuch. Selbstzeugnisse und Schriften 1931–1968, Köln 2002