Die Galerie des 20. Jahrhunderts in West-Berlin
Ein Provenienzforschungsprojekt


zurück

Chaim Soutine (1893–1943)
Die Straße, um 1923/24

Öl auf Leinwand
65,1 x 81 cm

Standort
Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin

1969 erworben durch das Land Berlin
Ankaufspreis: 200.000 DM

Weitere Werkdaten

Abweichende Titel
Straße von Céret / Straße in Cagnes / La route de Céret

Bezeichnung Vorderseite / Sichtfläche
unten links: Soutine

Inventarnummern
Staatliche Museen zu Berlin: B 922
Inventar Land Berlin: 922

Werkverzeichnis-Nummer
Tuchman/Dunow/Perls WV 123

Foto: Anders, Jörg P. / CC BY-NC-SA
Provenienz
spätestens 1940 bis um 1950 Pierre Berès, Paris L2
Madame Demaarne [?] (Aufkleber) L2
bis April 1957 Galerie Bénézit, Paris L2
April 1957 bis Januar 1962 Paul Rosenberg & Co., New York L2
ab Januar 1962 George Bluds, New York L2
1963 Sotheby’s, London Q6
24.4.1963 bis 31.12.1963 Marlborough Fine Art Ltd., London, erworben bei Sotheby’s, London Q6 L3
ab 31.12.1963 Luigi Toninelli, Mailand Q6
spätestens 1965 Renato Zevi, Mailand L2
um 1969 Galerie Romeo Toninelli, Rom L2
im September 1969 aus Mitteln des Landes Berlin (Deutsche Klassenlotterie) von der Galerie Toninelli erworben für die Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz Q1 Q3
Im September 1969, also ein Jahr, nachdem die Sammlung der Galerie des 20. Jahrhunderts (West) mit der Nationalgalerie (West) fusioniert worden war, wurde das Gemälde „La Route de Céret“ von Chaim Soutine aus den vom Land Berlin bereitgestellten Lottomitteln für die Vereinigten Kunstsammlungen erworben. Der Ankauf erfolgte über die in Rom ansässige Galerie Romeo Toninelli, die das Bild erstmals 1963 in ihrer Mailänder Filiale von Marlborough Fine Art in London übernommen hatte.

Die Autoren des Soutine-Werkverzeichnisses haben die beachtliche Provenienzkette des Werks in der Nachkriegszeit aufgezeichnet, als es von Paris nach New York und London, von dort über Mailand und Rom nach Berlin gelangte. Die Jahre zwischen der Entstehung des Bildes 1924 und dem Ankauf durch Pierre Berès in Paris, der spätestens 1940 stattfand, bleiben jedoch als eine Lücke in der Besitzgeschichte bestehen. Obgleich es keinen konkreten Verdacht gibt, lässt sich ein NS-verfolgungsbedingter Entzug angesichts der Biografien der involvierten Personen bislang auch nicht ausschließen.

1940 war das Bild nachweislich in Berès’ Besitz (freundliche Auskunft Esti Dunow, New York, 14.3.2013) – wann genau und von wem er es erwarb, ist jedoch unbekannt. Berès (geboren 1913 in Schweden als Berestov, gestorben 2008 in Frankreich) war ein sehr erfolgreicher Buchhändler und Verleger in Paris, dazu Sammler von Autografen, raren Büchern und Kunsteditionen. Sein Erfolg fußte zum Teil auf den Ankäufen von Buch-, Manuskript- und Graphiksammlungen, die infolge der Weltwirtschaftskrise 1929 von zahlungsunfähigen französischen Aristokraten und amerikanischen Millionären (Mortimer Schiff, Cortlandt F. Bishop) aufgelöst wurden. 1937 gründete Berès eine Zweigstelle in New York; die von wohlhabender Klientel frequentierte Pariser Buchhandlung überstand den Krieg. Seit jeher ausgesprochen kunstaffin, verlegte Berès zahlreiche Kunstbücher und Editionen (collection Miroirs de l’art) und knüpfte 1942 persönliche Bekanntschaft mit Pablo Picasso, später kamen Henri Matisse, Max Ernst, André Masson und andere zeitgenössische Künstler hinzu, denen er Ausstellungraum bot.

Der aus einer jüdischen Familie in Litauen stammende Maler Chaim Soutine war 1912 nach Paris emigriert. 1919 bis 1922 lebte er im ländlichen Céret, danach wieder in Paris und in Cagnes. In Céret und Cagnes entstanden unzählige Bilder von Dorf- und Landstraßen,L1 deren Verkauf Léopold Zborowski als sein Kunsthändler in Paris übernahm. Bei Zborowski ereignete sich 1922 der legendäre Besuch von Dr. Albert C. Barnes, eines amerikanischen Pharmaindustriellen und Kunstsammlers, der in Begleitung des Pariser Sammlers Paul Guillaume rund fünfzig Gemälde von Soutine auf ein Mal erwarb (heute großteils in der Barnes Foundation in Merion) und dem mittellosen Maler kurzzeitig zu Reichtum verhalf. 1927 lernte Soutine die Eheleute Madelaine und Marcellin Castaing kennen, die wichtige Mäzene des Künstlers wurden und ihn zeitweise auf ihrem Anwesen in Lèves wohnen ließen. Auch andere große Sammler interessierten sich für Soutines Kunst, Maurice Raynal nennt sie 1927 in seinem Handbuch: „Les œuvres de Soutine se trouvent dans les collections Dr. Barnes, Bing, Pierre, Guillaume, Zborowksi, Gosset, Level etc.“ (Maurice Raynal, Anthologie de la peinture en France de 1906 à nos jours, Paris 1927, S. 290). Auch Dr. Jacques Soubiès besaß mindestens 26 Gemälde von Soutine, die er 1940 im Pariser Hôtel Drouot versteigern ließ, zu denen „La Route de Céret“ jedoch nicht gehörte (vgl. S. 169 ff.).L1 Nach dem Krieg kamen wichtige Soutine-Sammler in den USA hinzu, etwa Ralph Colin, M. & Mme Jack, Jacques Wertheimer oder Henry Pearlman.

Doch auch die Vertretung von Soutine konnte Zborowski nicht über die wirtschaftliche Krise retten, die sich mit dem Börsenkrach 1929 über Europa ausbreitete. 1932 stand der Kunsthändler vor dem vollständigen finanziellen Ruin; wenige Wochen später starb er an einem Schlaganfall. Soutine blieb in den 1930er-Jahren ein bekannter Maler und erhielt Einzelausstellungen in Chicago (1935) und Paris (1937). Als registrierter Jude schwebte er jedoch spätestens seit der deutschen Besatzung Frankreichs in Deportationsgefahr. Marie-Berthe Aurenche, die frühere Frau von Max Ernst, mit der Soutine zusammenlebte, versteckte ihn und pflegte ihn bei zunehmender Krankheit. Nach Soutines plötzlichem Tod in Paris 1943 verkaufte sie die im Nachlass verbliebenen Werke zu niedrigen Preisen. Soutines Tochter und eine Schwester (wohl in Amerika) erbten nichts (vgl. Emile Szytta, Soutine et son temps, Paris 1955, S. 109).

Recherche: CT | Text: CT

Außenrahmen links oben, Aufkleber der Speditionsfirma Atege München für die documenta 3, mit handschriftlicher Nummer: 834 [?]
Außenrahmen links unten, Bezifferungen: D.K 9[?] [in Rot]; (52) [auf weißem Klebestreifen]
Keilrahmen oben links, Ausstellungsaufkleber Toninelli Arte Moderna Milano, mit Nummer, rot: 884
Keilrahmen rechts unten, kleiner runder Aufkleber mit handschriftlicher Bezeichnung, blau: Mouhy
Keilrahmen unten rechts: Aufkleber der Ausstellung im Maison de la pensée française, Paris, mit Nummer: 11 [Ausst. 1956]
Keilrahmen Mittelsteg oben, runder weißer Aufkleber mit handschriftlicher Bezeichnung: Mm [?] Demaarne / Soutine
Keilrahmen Mittelsteg oben, Nummer, blau: 37
Keilrahmen Mittelsteg unten, Speditionsaufkleber Ets. Pottier Paris mit Nummer, rot: 101
Leinwand links Mitte: ovaler Stempel der Kunstmaterialhandlung Lefebvre-Foinet Paris
dazu diverse handschriftliche Bezifferungen (darunter „5924“) und Spuren abgelöster Aufkleber

Rückseite
Foto: Zentralarchiv, Staatliche Museen zu Berlin
Rückseite Aufkleber
Foto: Zentralarchiv, Staatliche Museen zu Berlin
Rückseite Aufkleber
Foto: Zentralarchiv, Staatliche Museen zu Berlin

Q1 Inventarverzeichnis für Kunstwerke Berlins in der Nationalgalerie B 3000/306 [Inventar der Galerie des 20. Jahrhunderts (West)], 2 Bde., 1949–1982, Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten, Berlin, Eintrag vom 11.9.1969

Q2 Notiz über „noch zu dem Inventar der Galerie des 20. Jahrhunderts zu inventarisierenden Kunstwerke“, 26.11.1969, Ordner 1, 3894/3-31(7)11, Akten der Senatsverwaltung, Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten, Berlin, Kopie bei den Staatlichen Museen zu Berlin, Zentralarchiv

Q3 Protokoll der Sitzung der Ankaufskommission, 18.7.1969, Bildakte Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, Ordner B: Beratende Ankaufskommission, Protokolle, Lotto

Q4 Korrespondenz zwischen der Galerie Toninelli und Werner Haftmann, Rechnung, Zahlungsbestätigung, Fracht- und Zollpapiere, 1969, Bildakte Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie

Q5 Rechnungskopie, Galerie Toninelli an die Neue Nationalgalerie, 4.8.1969, Landesarchiv Berlin, B Rep. 014-98 (Akten Deutsche Gesellschaft für Bildende Kunst)

Q6 Archiv der Galerie Marlborough Fine Art, London, freundliche Auskunft von Kate Austin, 3.1.2012

L1 Pierre Courthion, Soutine. Peintre du déchirant, Lausanne 1972, Nr. 207 B (hier datiert auf 1921/22, keine Besitzerangabe)

L2 Maurice Tuchman, Esti Dunow und Klaus Perls, Chaim Soutine. 1893–1943. Catalogue raisonné / Werkverzeichnis, Köln 1993, Nr. 123, S. 250

L3 Summer Exhibition, Ausst.-Kat. Marlborough Fine Art London 1963, Nr. 53 mit Abb.