Die Galerie des 20. Jahrhunderts in West-Berlin
Ein Provenienzforschungsprojekt


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Kurt Schwitters (1887–1948)
Ohne Titel (Relief mit drehbarer Glasscheibe), 1930

Holz und Glas
24 x 18 x 5 cm

Standort
Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin

1966 erworben durch das Land Berlin
Inventarwert: 5.000 DM

Weitere Werkdaten

Abweichende Titel
Relief mit drehbarer Glasscheibe / Ohne Titel (Bild mit drehbarer Glasscheibe) / Collage mit drehbarer Glasscheibe; Komposition; Collage aus Holzplatte mit Holzstäben mit grünem rechteckigem Glas mit runder farbloser Glasscheibe

Bezeichnung Vorderseite / Sichtfläche
unbezeichnet

Inventarnummern
Staatliche Museen zu Berlin: B 851
Inventar Land Berlin: 851/17

Werkverzeichnis-Nummer
Orchard/Schulz WV 1653

Foto: Ziehe, Jens / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016
Provenienz
1929 oder 1930 vom Künstler als Hochzeitsgabe verschenkt L3
um 1930 Rückgabe an den Künstler durch die Beschenkten L3
1930 bis 1955 Heinrich Evert, Berlin, erworben vom Künstler L3 L2
1955 bis 1966 Gertrud Evert, Berlin, per Erbschaft Q3
1966 bis 1968 Galerie des 20. Jahrhunderts, Berlin, erworben von Gertrud Evert, Teil des Schenkungskonvoluts Sammlung Evert, Nr. 17 Q1
seit 1968 als Dauerleihgabe des Landes Berlin in der Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
Die Galerie des 20. Jahrhunderts besaß eine Collage mit Glaselementen und einer drehbaren Scheibe auf Holz von Kurt Schwitters, die 1966 aus dem Vermächtnis von Heinrich und Gertrud Evert in die Sammlung gekommen war. Dieses kleine Werk hat eine kuriose Provenienzgeschichte, die Georg Muche 1961 in seinen Memoiren beschreibt: „Auch Kurt Schwitters hatte ihm [Heinrich Evert] seine Freundschaft geschenkt und klagte ihm eines Tages, dass er eine große Enttäuschung erlebt habe. Zwei junge Menschen, denen er zu ihrem Hochzeitstag eine Freude machen wollte, hätten ihm sein Geschenk zurückgegeben und seien ihm nun böse, weil sie meinten, er habe sich über sie lustig machen wollen. Er zeigte sein Werk und erzählte, wie sorgfältig er daran gearbeitet habe, um das Brautpaar mit dieser Komposition aus Holz, Glas und Farben zu erfreuen. ‚Und nun …?‘ – ‚Mir gefällt Ihre Arbeit‘, sagte Evert, ‚würden Sie sie mir überlassen und zu welchem Preis?‘ – ‚Geben Sie mir 25,- Mark, und nehmen Sie das verunglückte Hochzeitsgeschenk‘, rief Schwitters beglückt, weil sein Werk Anerkennung gefunden hatte. Evert kaufte es“.L3 Muche datierte das Werk aufgrund dieser Geschichte auf 1929: „Kurt Schwitters’ Relief. Ein Brautgeschenk 1929“.L3 Die Holzcollage blieb nicht das einzige Werk Schwitters’, das Evert erwarb, sodass er der Galerie des 20. Jahrhunderts letztlich fünf seiner Arbeiten vermachen konnte.

Heinrich Evert (Hannover 1879–1955 Berlin) sammelte in den 1920er- bis 1950er-Jahren Werke deutscher Künstler der Moderne, neben denen von Schwitters vor allem von Oskar Moll und Georg Muche sowie Otto Mueller, Alexander Camaro, Karl Schmidt-Rottluff, Werner Heldt und zahlreichen anderen. Ausgebildet an der hannoverschen Kunstgewerbeschule und der Baugewerkschule in Buxtehude sowie den Technischen Hochschulen in Berlin und Hannover hatte Evert seine Laufbahn im öffentlichen Dienst 1905 als Abteilungsleiter der Hochbauabteilung beim Stadtbauamt Jena begonnen. 1910 wurde er zum Stadtbaurat in Jauer berufen, wo er von 1927 bis 1934 auch das Amt des Bürgermeisters bekleidete. In seiner Zeit dort setzte Evert sich vor allem für kulturelle und soziale Belange ein und wirkte am modernen Siedlungsbau mit. Nach Januar 1933 geriet er „als Nichtparteigenosse und Freimaurer“, wie er sich selbst bezeichnete,Q5 ins Visier der NSDAP; im Oktober 1934 legte er sein Amt in Jauer nieder und siedelte nach Berlin um. Hier war er von 1936 bis 1945 als kommunaler Berater der Wehrkreisverwaltung III tätig und wurde 1946 zum Bezirksrat und Leiter der Abteilung für Bau- und Wohnungswesen im Bezirksamt Berlin-Wilmersdorf berufen. Ab 1951 wirkte Evert als Bezirksstadtrat. Bis zu seinem Tod 1955 wohnte er in der Rudolstädter Straße 100 in Wilmersdorf.

Dass Adolf Jannasch, Leiter der Galerie des 20. Jahrhunderts, Evert persönlich kannte, zeigt der Eintrag in seinem Sammler-Notizbuch: „Evert / ‚Bauen und Wohnen‘ / Schwitters, Heldt, Moderne, Müller, Muche, Camaro“.Q4 Diese Bekanntschaft mag Everts Beschluss, der Galerie seine Sammlung anzuvertrauen, bekräftigt haben. So legte der kinderlose Baurat testamentarisch fest: „Ich setze als Erben meiner gesamten Kunstgegenstände (Gemälde, Graphiken, Plastiken, Sammelmappen, kunstgewerbliche Gegenstände und einschlägige Literatur) das Land Berlin ein. Für die Betreuung dieser Kunstwerke soll die Galerie des XX. Jahrhunderts zuständig sein“.Q8 Diesem Wunsch folgend, hinterließ seine Witwe Gertrud Evert, geborene Fangauf, mit ihrem Tod 1966 dem Land Berlin 117 Gemälde, Zeichnungen und graphische Blätter.Q3 Vereinzelte Werke scheint Heinrich Evert auch dem Stadtmuseum Berlin vermacht zu haben.

Die Werke für seine Sammlung erwarb Heinrich Evert zum größten Teil direkt bei den Künstlern; mit vielen war er persönlich bekannt oder freundschaftlich verbunden. Einer seiner ersten engen Künstlerfreunde war Kurt Schwitters, der, wie er selbst, aus Hannover kam. Schwitters verstarb 1948 im englischen Exil. Am 25. Januar 1953 bekannte Evert in einem Brief an Georg Muche: „Du weißt ja, dass Kurt Schwitters eine alte Liebe von mir ist, der ich bis an mein Lebensende treu bleiben werde.“Q6 Eine Anfrage des Kunsthändlers Ferdinand Möller, ob er Arbeiten von Schwitters zu verkaufen habe, schlug Evert im selben Monat mit ähnlichen Worten aus: „Es ist eine Genugtuung zu hören, dass Schwitters (eine meiner ‚Jugendlieben‘) nicht ganz in Vergessenheit geraten ist. Was Ihre Anfrage betrifft […] muss ich Sie leider enttäuschen. Mit diesen Bildern verbinde ich so viele liebe, persönliche Erinnerungen an Kurt Schwitters, dass ich mich nicht von ihnen trennen will.“Q7 Dass die persönliche Bekanntschaft zwischen Schwitters und Evert schon Ende der 1920er-Jahre bestand, belegt ein Brief des Künstlers an Katherine Dreier vom Januar 1927: „Dann habe ich allein eine Reise von 4 Wochen nach Berlin und Dresden gemacht. Habe etwas verdient, aber leider nicht genug. Aber man hilft sich so durch. In Dresden habe ich für Frau Bienert einige Räume gestalten helfen und ihr zwei Merzzeichnungen verkauft. Ich habe überhaupt mehrere neue Arbeiten verkauft, an Kirchhoff, Jaffee (Hamburg) und Baurat Evert in Jauer in Oberschlesien. Evert hat 2 große Bilder gekauft.“L4

Das stetige Anwachsen der Schwitters-Sammlung Everts um 1930 beschrieb Muche 1961 mit warmen Worten: „Mein Freund Heinrich Evert, der Bürgermeister in einer stillen schlesischen Stadt war, kaufte dann und wann ein Bild, weil er eine große Liebe zu dem geheimnisvollen Leben hatte, das sich in Bildern offenbart. Er sah in ihnen das Gleichnis einer geistigen Ordnung, und jedes Bild in seiner Sammlung war für ihn ein Zeichen der Begegnung mit einem der seltsamen Menschen, die Bilder malen. Auch Kurt Schwitters hatte ihm seine Freundschaft geschenkt. […] Evert kaufte [1930 ein Werk von Schwitters] – und später wieder einmal ein Blatt – und dann noch eins – und dann ein Bild. Da schrieb ihm Schwitters auf einer Postkarte: ‚Nun sind Sie mein größter Sammler.‘“L3

Recherche: CT | Text: CT

Signatur auf der Holzplatte, Bleistift: Kurt Schwitters 1930
Holzplatte unten rechts: Aufkleber der Galerie des 20. Jahrhunderts

Q1 Inventarverzeichnis für Kunstwerke Berlins in der Nationalgalerie B 3000/306 [Inventar der Galerie des 20. Jahrhunderts (West)], 2 Bde., 1949–1982, Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten, Berlin, erworben Juni 1966

Q2 Protokoll der Übergabe der Bestände der Galerie des 20. Jahrhunderts an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz [Gemälde und Skulpturen aus den Verwaltungs- und Ausstellungsräumen der Galerie], 5.6.1968, Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, S. 1

Q3 Erbvertrag zwischen Gertrud Evert und dem Land Berlin, 1.8.1957, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 04-0601-02-010.1 ff.

Q4 Sammler-Notizbuch Adolf Jannasch, Privatbesitz

Q5 Lebenslauf Heinrich Evert, 14.10.1945, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 02-0204-02-000

Q6 Brief Heinrich Evert an Georg Muche, 25.1.1953, Deutsches Kunstarchiv Nürnberg, NL Muche, Georg I,C-183

Q7 Brief Heinrich Evert an Ferdinand Möller, 29.1.1953, Archiv Berlinische Galerie, DE BG-GFM-MF 5317, 155

Q8 Protokoll für notarielle Beurkundungen, Amtsgericht Berlin-Charlottenburg, 1.8.1958, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 04-0601-02-000

L1 Verzeichnis der Vereinigten Kunstsammlungen: Nationalgalerie (Preußischer Kulturbesitz) und Galerie des 20. Jahrhunderts (Land Berlin), hrsg. von den Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz, Berlin 1968, S. 192

L2 Karin Orchard und Isabel Schulz, Kurt Schwitters. Catalogue raisonné, Hannover 2003, Nr. 1653 („Heinrich Evert“, bis 1966 [Kauf vom Künstler])

L3 Georg Muche, Blickpunkt. Sturm Dada Bauhaus Gegenwart, München 1961, Kapitel „Der größte Sammler“, Bild vor S. 177, Text S. 180 f.

L4 Brief Kurt Schwitters an Katherine S. Dreier, 29.1.1927, abgedruckt in: Ernst Nündel (Hrsg.), Kurt Schwitters. Wir spielen bis der Tod uns abholt, Frankfurt am Main u. a. 1974, S. 111 f.