Die Galerie des 20. Jahrhunderts in West-Berlin
Ein Provenienzforschungsprojekt


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Juan Gris (1887–1927)
Stillleben, 1915

Öl auf Leinwand
116 x 90 cm

Standort
Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin

1968 erworben durch das Land Berlin
Ankaufspreis: 315.000 DM

Weitere Werkdaten

Abweichende Titel
Nature morte

Bezeichnung Vorderseite / Sichtfläche
oben links: Juan Gris / 6-1915

Inventarnummern
Staatliche Museen zu Berlin: B 903
Inventar Land Berlin: 903

Werkverzeichnis-Nummer
Cooper WV 130

Foto: CC BY-NC-SA
Provenienz
ab 1915 Léonce Rosenberg, Paris L8
bis 1933 Pierre Faure, Paris Q12 L9 L8 (Aufkleber)
1933 bis mindestens 1961 Daniel-Henry Kahnweiler (Galerie Simon/Galerie Louise Leiris), Paris L10 L8 L2 L5 L6 (Aufkleber)
bis 1968 Harry Brooks, M. Knoedler & Co., Inc., New York Q6 Q7 L8 L4
1968 Galerie Wilhelm Grosshennig, Düsseldorf, vermittelt für Knoedler & Co. Q1 Q6 Q7 Q11
1968 erworben aus Mitteln des Landes Berlin (Deutsche Klassenlotterie) bei der Galerie Grosshennig für die Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz Q1 Q9
Der Erwerb dieses großen kubistischen Stilllebens von Juan Gris hatte einen festlichen Anlass: Werner Haftmann, der Direktor der Neuen Nationalgalerie, erwarb es 1968 zur Eröffnung der nun vereinten Sammlungen von Galerie des 20. Jahrhunderts und Nationalgalerie (West) im neuen Haus. Es war dies einer der letzten Ankäufe, über die die Ankaufskommission der Galerie des 20. Jahrhunderts entschied. Dass Haftmann genau dieses Werk auswählte, war kein Zufall: Er hatte es 1955 als Exponat auf der ersten documenta in Kassel gezeigt, an der er mitgewirkt hatte. Auch auf der documenta 2 und der documenta 3 stellte Haftmann Gris und andere Kubisten aus.

Gris’ „Nature morte“ von 1915 gehörte nach seiner Entstehung zunächst dem Pariser Kunsthändler und -sammler Léonce Rosenberg (1879–1947). Ausgebildet im Antiquariat seines Vaters Alexandre Rosenberg, hatte sich Léonce 1910 mit der Galerie Haute Époque selbstständig gemacht und zu einem der wichtigsten Förderer des Kubismus in Frankreich entwickelt. Er begann, Werke von Pablo Picasso, Auguste Herbin, Jean Metzinger, Albert Gleizes, Fernand Léger, Joseph Csaky, Henri Laurens, Juan Gris und anderen zu kaufen, die er großteils auch in seiner 1918 eröffneten Galerie L’Effort Moderne vertrat. Selbst während des Ersten Weltkriegs, den Rosenberg als Übersetzer an der Somme verbrachte, erwarb er weiter Kunst.Q14 Mit Juan Gris stand er schon früh eng in Kontakt; 1917 hatte er einen dreijährigen Exklusivvertrag mit ihm geschlossen. 1919 berichtete Gris dem Galeristen Daniel-Henry Kahnweiler, der (nachdem er ihn bereits vor dem Krieg vertreten hatte) erneut Interesse an seinen Arbeiten anmeldete: „Über den Vertrag hinaus, der vor nunmehr zwei Jahren geschlossen wurde, hat mir Rosenberg meine gesamte Produktion abgekauft, ohne Verpflichtungen und so, wie ich sie nach dem Frühling 1915 fertigstellte. Das heißt, dass ich keine anderen Bilder habe als die, die ich bis zu diesem Datum gemacht habe. Sie sind in der Tat für Sie reserviert.“Q15 Unter den 1915 von Rosenberg erworbenen Werken Gris’ befand sich auch unser Stillleben, das er mit der Depotnummer 6.978 verzeichnete.L8

Er verkaufte es an den Pariser Kunstsammler Pierre Faure, der zwischen 1915 und 1927 insgesamt 26 Gris-Gemälde von Léonce Rosenberg erwarb.L3 Bei einer Gris-Ausstellung im Kunsthaus Zürich trat er im April 1933 als Leihgeber von über zwanzig Werken auf, darunter auch unser Stillleben,L9 verkaufte seine Sammlung um dieselbe Zeit aber an Kahnweiler.L3 Offenbar war der Abschluss dieser Transaktion bereits für Mai geplant, denn in einem Brief vom 3. Juli 1933 drängte Faure den Kunsthaus-Direktor Wilhelm Wartmann, ihm vor seiner Abreise aus Paris die (zu seinem Ärger) noch nicht zurückgesandten Leihgaben zuzustellen: „[…] mes tableaux de Gris et de Léger pour votre exposition, ils devraient être vendus au plus tard au début de mai. […] J’aimerais connaître la cause de ce retard qui me gêne beaucoup devant quitter Paris bientôt.“Q12

Kahnweiler und Gris waren Geschäftspartner, Freunde und seit 1922 Nachbarn. Vor und nach seinem Vertrag mit Rosenberg vertrat Kahnweiler den Maler in der Galerie Simon, und auch in seiner Privatsammlung bewahrte er zahlreiche Werke von ihm. Allein unter den 1914 in Paris konfiszierten und 1921 bis 1923 im Hôtel Drouot zwangsversteigerten Werken aus der kahnweilerschen Sammlung befanden sich 70 Arbeiten Gris’.L11 Verzeichnet mit der Depotnummer 0.447, blieb „Nature morte“ bis nach dem Zweiten Weltkrieg bei Kahnweiler. Aufkleber von Ausstellungen in den späteren 1950er-Jahren (Rückseite) und ein Münchener Ausstellungskatalog von 1961 weisen es noch als Besitz seiner Galerie Leiris aus.L5 Dass das Bild später in die USA kam, hängt sicher damit zusammen, dass dem Pariser Kunsthändler stark daran lag, Gris auch international zu vermitteln und vermarkten. Harry Brooks, Geschäftsführer der Galerie Knoedler in New York, behielt Gris’ Bild offenbar einige Jahre in seiner Privatsammlung, bevor er es 1968 über den deutschen Handelspartner Wilhelm Grosshennig an Haftmann vermittelte.Q3

1961 hatte Adolf Jannasch bereits einen Versuch unternommen, ein ähnliches, von der Galerie Vömel in Düsseldorf angebotenes Stillleben Gris’ aus dem Jahr 1915 (61 x 89 cm), ebenfalls aus der Sammlung Kahnweiler, für die Galerie des 20. Jahrhunderts zu erwerben, war jedoch mit seinem Antrag bei der Deutschen Klassenlotterie gescheitert (vgl. Bildakte Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie; Foto im Archiv der Berlinischen Galerie, DE BG Gal 12-0101-07-092). Dass 1968 dann der Erwerb eines „der Hauptwerke [Gris’] dieser Zeit, [ein] importantes, charakteristisches Werk“Q13 gelang, erfreute Haftmann und Jannasch gleichermaßen. Sie sahen sich damit einen Beitrag dazu leisten, eine „der entsetzlichsten und schmerzlichsten Lücken“Q16 in den modernen Kunstsammlungen Berlins zu schließen: „Wer heutzutage Bilder des Kubismus kaufen will, […] sieht sich vor fast unüberwindliche Schwierigkeiten gesetzt: die wenigen starken Bilder aus dieser Zeit, die noch zu erwerben wären, übersteigen zumeist die Finanzierungskraft der Museen. Die Moderne Galerie der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen kaufte im vergangenen Jahr […] Georges Braques’ ‚Frau mit Mandoline‘ […] für 1,25 Mill. DM. – Weder die Nationalgalerie noch die Galerie des 20. Jahrhunderts besitzen ein einziges kubistisches Bild. […] Der Ankauf eines so grossartigen Gemäldes, wie des 1915 entstandenen ‚Stillebens‘ von Juan Gris für 315.000 DM setzt da einen ersten glücklichen Akzent.“Q16

Recherche: CT | Text: CT

neu montiert auf rückseitiger Schutzpappe:
Aufkleber der Biennale Venedig 1956, rot: 22
Aufkleber der Biennale Venedig 1956, rot: 472
Aufkleber: Dogana Italiana / Merci Visitate / j u / 9780 [kreuzweise ausgestrichen]
Aufkleber: Galerie Simon / 29 bis, Rue d’Astorg / Paris (VIIIe) / No. 0447 / 1915 / Juan Gris / Nature Morte / 116 x 89 / Photo No. 5764
Aufkleber, maschinenschriftlich: Ancienne Collection Pierre Faure
Speditionsaufkleber: André Chenue, Paris; mit handschriftlicher Ergänzung: 85. [und] Galerie Leiris
Aufkleber: Berner Kunstmuseum; mit Kat.-Nr. 26 und Besitzerangabe: Gal. Louise Leiris, Paris [1956]
Aufkleber: Museum of Modern Art / Loan / 58.121 Leiris [1958]
zusätzlich verschiedene Ausstellungsaufkleber aus der Zeit nach 1968 [Ankaufsjahr]

auf Außenrahmen:
Beschriftung, handschriftlich, weiß: 1/26/68
Beschriftung, handschriftlich, weiß: KNOEDLER – THEIRFR [?]
Beschriftung, handschriftlich, schwarz: A 8405
Speditionsaufkleber, Arthur Lenars & Cie, Paris: KNO 7512 Juan Gris Composition

auf der Leinwand: mehrere unleserliche Rundstempel

Rückseite
Foto: Kilger, Andres
Rückseite
Foto: Kilger, Andres
Rückseite
Foto: Kilger, Andres
Rückseite
Foto: Kilger, Andres

Q1 Inventarverzeichnis für Kunstwerke Berlins in der Nationalgalerie B 3000/306 [Inventar der Galerie des 20. Jahrhunderts (West)], 2 Bde., 1949–1982, Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten, Berlin, erworben März [?] 1968

Q2 Schreiben Werner Stein an Hans-Georg Wormit, 21[?].5.1968, Ordner 1, 3894/3-31(7)11, Akten der Senatsverwaltung, Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten, Berlin

Q3 Protokoll der Ankaufskommission, 2.4.1968, Bildakte Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, Ordner B: Beratende Ankaufskommission, Protokolle, Lotto

Q4 Vorschläge für Neuerwerbungen, Schreiben Werner Haftmann an die Ankaufskommission der Galerie des 20. Jahrhunderts, 31.1.1968, Bildakte Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, Ordner B: Beratende Ankaufskommission, Protokolle, Lotto

Q5 Protokoll der Ankaufskommission, 24.6.1968, Bildakte Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, Ordner B: Beratende Ankaufskommission, Protokolle, Lotto

Q6 Erwerbungsakten 1967/68, Korrespondenz zwischen Wilhelm Grosshennig und Werner Haftmann, Bildakte Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie

Q7 Protokoll der Ankaufskommission, 30.1.1968, Bildakte Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, Ordner B: Beratende Ankaufskommission, Protokolle, Lotto

Q8 Empfangsbestätigung Werner Haftmann an die Deutsche Gesellschaft für Bildende Kunst, Landesarchiv Berlin, B Rep. 014-98 [Akten Deutsche Gesellschaft für Bildende Kunst]

Q9 Verwendungsnachweise der Deutschen Klassenlotterie ab 1966, Landesarchiv Berlin, B Rep. 014-54

Q10 Liste der Erwerbungen der Deutschen Gesellschaft für Bildende Kunst für öffentliche Kunstinstitutionen des Landes Berlin, o. D., Landesarchiv Berlin, B Rep. 014-79, hier Nr. 15

Q11 Brief Wilhelm Grosshennig an Schmilinsky (Schatzmeister der Deutschen Gesellschaft für Bildende Kunst), 6.9.1968, Landesarchiv Berlin, B Rep. 014-79

Q12 Briefe Pierre Faure an Wilhelm Wartmann, 3.7.1933 und 19.7.1933, Archiv Kunsthaus Zürich, Korrespondenz Ausstellungen Besitzer/Händler 1933, Archiv 10.30.30.62

Q13 Angebot Wilhelm Grosshennig, Januar 1966, Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, II B/Galerie des 20. Jahrhunderts – Land Berlin 8, Bl. 55

Q14 The Museum of Modern Art Archives, New York, Léonce Rosenberg Papers [online: www.moma.org/learn/resources/archives/EAD/Rosenbergf, letzter Zugang 11.2.2016]

Q15 Brief Juan Gris an Daniel-Henry Kahnweiler, 26.9.1919, zit. n.: Daniel-Henry Kahnweiler. Kunsthändler, Verleger, Schriftsteller, Ausst.-Kat. Centre Pompidou Paris, Stuttgart 1986, S. 126

Q16 Ankaufsgutachten, o. D. [vermutlich verfasst von Werner Haftmann], Bildakte Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie

L1 Verzeichnis der Vereinigten Kunstsammlungen: Nationalgalerie (Preußischer Kulturbesitz) und Galerie des 20. Jahrhunderts (Land Berlin), hrsg. von den Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz, Berlin 1968, S. 85

L2 Kunst des XX. Jahrhunderts, Ausst.-Kat documenta, Fridericianum Kassel, München 1955, Nr. 195 („Galerie Louise Leiris Paris“)

L3 Douglas Cooper, Juan Gris, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Bern 1955, Nr. 26 („Privatbesitz Paris“)

L4 Juan Gris, Ausst.-Kat. Wallraf-Richartz-Museum Köln 1965, Nr. 32 (Leihgeber: „M. Knoedler & Co. Inc., New York“)

L5 Von Bonnard bis heute. Meisterwerke aus französischem Privatbesitz, Ausst.-Kat. Haus der Kunst München 1961, Nr. 52, Abb. 42 (Leihgeber: „Galerie Louise Leiris, Paris“)

L6 XXVIII. Biennale di Venezia, Ausst.-Kat. Venedig 1956, S. 254 („No. 10 Natura Morta, 1915. Parigi, Galerie Louise Leiris“; Kurator des Gris-Saals: D.-H. Kahnweiler)

L7 Wilhelm Grosshennig, Kunsthandel in Düsseldorf 1962–1967 [Zusammenstellung der wichtigsten von Grosshennig gehandelten Kunstwerke], Düsseldorf 1967, o. S., mit Abb. („Ehem. Galerie Simon, Paris; Galerie Louise Leiris, Paris; Jetziger Besitzer: Galerie des 20. Jahrhunderts Berlin“)

L8 Juan Gris. Paintings and Drawings 1910–1927 [mit Werkverzeichnis], hrsg. von Paloma Esteban Leal, Ausst.-Kat. Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía, Madrid 2005, Nr. 53

L9 Juan Gris, Ausst.-Kat. Kunsthaus Zürich 1933 („Nr. 52, Nature morte, Juan Gris 6-1915, 89 x 116 [sic], M. Faure, Paris“)

L10 Juan Gris, Ausst.-Kat. Galerie Kahnweiler Paris 1946, Taf. XIII, bzw. New York und London 1947, S. 88

L11 Daniel-Henry Kahnweiler. Kunsthändler, Verleger, Schriftsteller, Ausst.-Kat. Centre Pompidou Paris, Stuttgart 1986