Die Galerie des 20. Jahrhunderts in West-Berlin
Ein Provenienzforschungsprojekt


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Lovis Corinth (1858–1925)
Porträt des Sohnes Thomas, 1921

Öl auf Leinwand
87 x 65 cm

Standort
Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin

1962 erworben durch das Land Berlin
Ankaufspreis: 63.000 DM

Weitere Werkdaten

Abweichende Titel
Bildnis Sohn Thomas; Thomas als Tiroler; Bildnis des Sohnes Thomas (vor dem Walchensee)

Bezeichnung Vorderseite / Sichtfläche
unten links: LOViS / CORiNTH. / 1921
Mitte links: THO / MAS

Inventarnummern
Staatliche Museen zu Berlin: B 549
Inventar Land Berlin: 549
Weitere Nummern: 549/40

Werkverzeichnis-Nummer
Berend-Corinth 1992 WV 835

Foto: März, Roman / CC BY-NC-SA
Provenienz
bis maximal September 1921 im Besitz des Künstlers
spätestens September 1921 bis 10.7.1922 Erich Goeritz, Berlin Q18
10.7.1922 bis 7.7.1937 Städtischen Kunstsammlungen Chemnitz, Schenkung von Erich Goeritz Q4 Q8 Q13 Q14 L3 L5
7.7.1937 bis 28.6.1941 Deutsches Reich/Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, Berlin, als „entartet“ beschlagnahmt in den Städtischen Kunstsammlungen Chemnitz Q4 Q10 Q13 Q14 Q17
Juli 1937 bis Juni 1941 Depot Schloss Schönhausen, Berlin, Lagerung „international verwertbarer“ Kunstwerke Q11
etwa Januar bis Februar 1940 Wolfgang Gurlitt, Berlin, in Kommission übernommen vom Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda Q12
1940/41 Bernhard A. Böhmer, Güstrow, erworben vom Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda
eventuell 28.6.1941 Galerie Fischer, Luzern
„Privatbesitz“ Q6
bis 1962 Sammlung Schoene, Berlin
1962 Galerie Grosshennig, Düsseldorf Q1 Q5 Q6
1962 bis 1968 Galerie des 20. Jahrhunderts, Berlin, erworben bei der Galerie Grosshennig Q1
seit 1968 als Dauerleihgabe des Landes Berlin in der Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
Der jüdische Fabrikant Erich Goeritz (1889–1955) war nur für kurze Zeit im Besitz von Lovis Corinths Gemälde „Porträt des Sohnes Thomas“. Als ursprünglich in Chemnitz ansässiger Mitinhaber des Familienunternehmens Strumpfwarenfabrik G. & S. Goeritz – 1920 war er mit seiner Frau Senta und seinen beiden Söhnen Thomas und Andreas nach Berlin gezogen – fühlte er sich den Kunstsammlungen Chemnitz besonders verbunden. Im September 1921 schrieb er an Corinth: „Nach Rücksprache mit Chemnitz kommt der ‚Thomas‘ für die dortige Sammlung in Frage. […] Die Bezahlung würde Anfang Oktober erfolgen. Die Werke könnten sie beliebig demnächst für Ausstellungszwecke verwenden. Ich möchte nochmals klarstellen, daß der ‚Thomas‘ nicht erst einer Kommission vorgelegt wird, jedoch würde es das Chemnitzer Museum dankbar begrüßen, wenn Sie einige graphische Blätter als Gabe beifügen würden.“Q18 Zunächst hatte Goeritz das Porträt für 20.000 Mark zum Kauf angeboten, doch als bereits alle Zahlungsanweisungen getätigt waren, entschloss er sich nachträglich zu einer Schenkung. Das Geld wurde ihm zurücküberwiesen (freundliche Mitteilung von Beate Ritter, Kunstsammlungen Chemnitz, 12.10.2011, in Zusammenfassung der Ankaufskorrespondenz im Stadtarchiv Chemnitz).

Goeritz besaß mehrere Werke von Corinth, mit dem er trotz eines großen Altersunterschieds gut befreundet war. Er gab verschiedentlich Porträts bei dem Künstlerfreund in Auftrag (ein Doppelbildnis von Erich Goeritz und David Leder als „Die Kunstfreunde“ [Werkverzeichnis-Nr. 841] sowie das „Bildnis Herr und Frau Goeritz“ [Werkverzeichnis-Nr. 858])L4 und überließ 1927 der Berliner Nationalgalerie zwei weitere Corinth-Gemälde als Leihgabe.Q16 Edwin Scharff fertigte von ihm ein Bronze-Porträt, das 1928 in der Ausstellung „Deutsche Nach-Impressionistische Kunst aus Berliner Privatbesitz“ im Kronprinzenpalais zu sehen war.L7 Q15 Auch nach seinem Umzug nach Berlin ist Goeritz noch mehrfach in den Kommissionsbüchern der Kunsthütte Chemnitz als Käufer von Corinth-Bildern erwähnt.Q21 Daneben nannte er Werke von Max Liebermann, Ernst Barlach und Alexander Archipenko sein Eigen.L8

1934 wanderte Goeritz mit seiner Familie über Luxemburg nach England aus, wo er weiterhin in der Bekleidungsindustrie tätig blieb. Anfang der 1950er-Jahre besuchte er Charlotte Berend-Corinth in New York und erwarb aus ihrem Apartment das Gemälde „Hymnus an Michelangelo“ (Werkverzeichnis-Nr. 481).L4 Berend-Corinth und Goeritz trafen sich auch danach noch einige Male, wenn sie auf Europareise war. Goeritz verstarb 1955 in London.

Da das „Porträt des Sohnes Thomas“ schon 1922 in Chemnitzer Museumsbesitz überging, ist ein NS-verfolgungsbedingter Entzug aus der Sammlung Goeritz ausgeschlossen. Die Chemnitzer Sammlungen inventarisierten den Neuzugang unter der Nummer 156. Im Juli 1937 wurde das Gemälde im Zuge der Aktion „Entartete Kunst“ beschlagnahmt (Beschlagnahmeverzeichnis-Nr. 10225) und zur vorläufigen Verwaltung dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda übergeben.Q4 Q10 Q13 Q14 Q17 Als „international verwertbares Kunstwerk“ folgte bis Juni 1941 die Einlagerung im Sammeldepot für „entartete Kunst“ in dem Berliner Schloss Schönhausen,Q11 aus dem es zwischendurch kurz entnommen wurde: Am 30. Januar 1940 schrieb Wolfgang Gurlitt an das Reichsministerium: „Von den in Schloss Schönhausen befindlichen Bildern habe ich einen ausländischen Kunden für zwei Arbeiten von Lovis Corinth interessiert und zwar / 1. für Bildes des Sohnes des Künstlers / 2. für Kind mit Katze / und ich bitte mich wissen zu lassen, ob die Möglichkeit besteht, diese Bilder für ca. 3 Wochen fest an die Hand zu bekommen, damit ich ausführliche Verhandlungen führen kann.“Q12 Der Verkauf des Porträts gelang Gurlitt jedoch offenbar nicht, da es 1941 in dem Güstrower Kunsthändler Bernhard A. Böhmer einen festen Abnehmer fand (freundliche Mitteilung von Meike Hoffmann, Forschungsstelle „Entartete Kunst“, Freie Universität Berlin). Eventuell überließ es Böhmer im Juni 1941 im Tausch der Galerie Fischer in Luzern zum Freihandverkauf (freundliche Mitteilung von Beate Ritter, Kunstsammlungen Chemnitz, 9.6.2011). Prinzipiell betrieb Böhmer tatsächlich regelmäßig Geschäfte mit der Galerie Fischer außerhalb von Auktionen; er übergab ihr beispielsweise 1941 Pablo Picassos „Absinthtrinkerin“ zum Verkauf.L6 Im Falle von Corinths „Sohn Thomas“ besteht jedoch gleichermaßen die Möglichkeit, dass es sich um ein Scheingeschäft gehandelt hat, sodass das Gemälde faktisch nie zur Ausfuhr in die Schweiz gelangte (freundliche Mitteilung von Andreas Hüneke an Beate Ritter, 8.2.2008), sondern in Deutschland unter der Hand einen Käufer fand. In der Nachkriegszeit jedenfalls tauchte es in Berlin wieder auf.

Im Finanzierungsantrag für den Erwerb des Bildes für die Galerie des 20. Jahrhunderts hielt Adolf Jannasch 1962 fest: „Das in Fachkreisen bekannte und als bedeutend anerkannte Gemälde befand sich vor der Beschlagnahme durch die Nationalsozialisten im Museum in Chemnitz als eines der späten Hauptwerke dieses großen deutschen Malers. […] Das Gemälde […] ist 1937 als ‚entartet‘ beschlagnahmt worden […]. Der richtige Platz für dieses Gemälde, das in Privatbesitz behütet wurde […], kann nur ein deutsches Museum sein.“Q6 Um welchen Privatbesitz es sich gehandelt hat, war ihm zweifelsohne bekannt, doch in den Akten hinterließ er sein Wissen nicht. Die Familie Corinth wusste noch 1956 nichts über den Verbleib des Gemäldes. Thomas Corinth, der Porträtierte, stellte zu jener Zeit Josef Müller, dem Leiter der Städtischen Museen Chemnitz, die Frage: „Haben Sie noch ‚Porträt Thomas im Tyroler Anzug‘?“ Müller erteilte die abschlägige Auskunft: „Hier kann ich Ihnen leider keinerlei Hinweise geben, wo sich das Bild jetzt befinden könnte. Es wurde 1937 bei der Aktion ‚Entartete Kunst‘ von den Nazis beschlagnahmt.“Q17

Jannasch hatte das Bild 1962 in der Galerie Grosshennig in Düsseldorf ausfindig gemacht.Q1 Q5 Q6 Der Kunsthandlung war es zuvor aus einer „Sammlung Schoene, Berlin“ zum Verkauf übergeben worden (freundliche Mitteilung von Margret Heuser, 8.8.2011). Recht wahrscheinlich ist es, dass diese Kollektion mit jenem „Privatbesitz“ identisch ist, denn Jannasch in seinem Finanzierungsantrag erwähnt. In Berlin lebten mehrere gleichermaßen passionierte Kunstsammler des Nachnamens Schöne, die derselben Familiendynastie entstammten: Landrat Dr. Friedrich Schöne (1886–1963) und sein Bruder Dr. Georg Schöne (1875–1961), seit 1934 als Chirurg in Berlin praktizierend, waren die Söhne von Richard Schöne (1840–1922), der von 1879 bis 1905 den Königlichen Museen zu Berlin als Generaldirektor vorgestanden hatte. Beide Söhne sammelten spätestens seit den 1930er-Jahren Kunst, allerdings vor allem des 19. Jahrhunderts. Georg Schönes Sohn wiederum war der Kunsthistoriker Wolfgang Schöne (1910–1989), der jedoch seit 1945 nicht mehr in Berlin lebte, sondern als Professor an der Universität Hamburg lehrte. Er war der Moderne gegenüber höchst aufgeschlossen, mit der er als Volontär der Nationalgalerie von 1936 bis 1939 in unmittelbarer Berührung gestanden hatte; in dieser Zeit engagierte er sich für die Rettung „entarteter Kunst“.Q19 Vor diesem Hintergrund käme er als Böhmers inoffizieller Käufer grundsätzlich infrage. Für die Nachkriegszeit ist ein Sammlungsinteresse Wolfgang Schönes an dem Œuvre Corinths belegt: 1949 bekundete er der seit 1943 in Langensalza ansässigen Kunsthandlung Curt Naubert seine Absicht, Graphik von Corinth erwerben zu wollen.Q20

Recherche: HS | Text: HS

Außenrahmen oben Mitte links, Nummer: 63,5 / 87,5
Keilrahmen oben Mitte links: Aufkleber der Galerie des 20. Jahrhunderts

Q1 Inventarverzeichnis für Kunstwerke Berlins in der Nationalgalerie B 3000/306 [Inventar der Galerie des 20. Jahrhunderts (West)], 2 Bde., 1949–1982, Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten, Berlin, Eintrag vom 12.4.1962

Q2 Protokoll der Übergabe der Bestände der Galerie des 20. Jahrhunderts an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz [Gemälde und Skulpturen aus den Verwaltungs- und Ausstellungsräumen der Galerie], 5.6.1968, Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, S. 2

Q3 Liste der Stiftungen der Deutschen Klassenlotterie, o. D., Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, Ordner B: Vereinigte Kunstsammlungen

Q4 Liste der beschlagnahmten Werke (international verwertbar), o. D., Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, I/NG 866, Bl. 64

Q5 Brief Galerie Grosshennig an Adolf Jannasch, 12.3.1962, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 04-0700-12-014.3.19

Q6 Finanzierungantrag Adolf Jannasch, 15.3.1962, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 04-0700-13-015.2.1

Q7 Brief Adolf Jannasch an Thomas Corinth, 29.8.1966, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 03-0401-03-172.1

Q8 Leihakten der Nationalgalerie, 1925, Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, I/NG 674, Bl. 134–137

Q9 Ansichtsrechnung [18.4.1962] und Bestellzettel [13.6.1962], Senatsabteilung Volksbildung und Galerie Grosshennig, Bildakte Staatliche Museen zu Berlin, Alte Nationalgalerie

Q10 Verzeichnis beschlagnahmter Kunstwerke, Reichministerium für Volksaufklärung und Propaganda, Bundesarchiv Berlin, R 55/20745, Bl. 74

Q11 Liste Bestand Niederschönhausen, Bundesarchiv Berlin, R 55/21015, Bl. 29, Nr. 99

Q12 Brief Wolfgang Gurlitt an das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, 30.1.1940, Bundesarchiv Berlin, R 55/21015, Bl. 56

Q13 Verzeichnis der in der Städtischen Kunstsammlung zu Chemnitz im August 1937 beschlagnahmten Erzeugnisse entarteter Kunst, Oktober 1937, Bogen 2, Archiv Kunstsammlungen Chemnitz, Akte Verzeichnis beschlagnahmter Erzeugnisse entarteter Kunst, 1937

Q14 Gemälde und Plastiken, die im „Dritten Reiche“ als „entartete Kunst“ aus der Sammlung entfernt wurden, o. D., Archiv der Kunstsammlungen Chemnitz

Q15 Leihakten Kronprinzenpalais 1928, Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, I/NG-719, Bl. 166

Q16 Leihakte 1927, Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, I/NG-857, Bl. 450 ff.

Q17 Brief Thomas Corinth an Josef Müller, Leiter der Städtischen Museen Chemnitz, 14.12.1956, und Antwortschreiben, 28.1.1957, Archiv der Kunstsammlungen Chemnitz

Q18 Brief Erich Goeritz an Lovis Corinth, 8.9.1921, publiziert in: Thomas Corinth (Hrsg.), Lovis Corinth. Eine Dokumentation, Tübingen 1979, S. 282

Q19 Biografie Wolfgang Schöne, Staatsbibliothek zu Berlin, Handschriftenabteilung, Findbuch zu Nachlass 264 (Wolfgang Schöne)

Q20 Brief Curt Naubert an Wolfgang Schöne, 12.4.1949, Staatsbibliothek zu Berlin, Handschriftenabteilung, Nachlass 264 (Wolfgang Schöne), Ordner 149

Q21 Kommissionsbücher der Kunsthütte Chemnitz, Archiv der Kunstsammlungen Chemnitz

L1 Die Galerie des 20. Jahrhunderts. Katalog, hrsg. vom Senator für Volksbildung, Berlin 1963, Nr. 34

L2 Verzeichnis der Vereinigten Kunstsammlungen: Nationalgalerie (Preußischer Kulturbesitz) und Galerie des 20. Jahrhunderts (Land Berlin), hrsg. von den Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz, Berlin 1968, S. 51

L3 Lovis Corinth. Ausstellung von Gemälden und Aquarellen zu seinem Gedächtnis, Ausst.-Kat. Nationalgalerie Berlin 1926, Nr. 321

L4 Charlotte Berend-Corinth und Hans Konrad Röthel, Die Gemälde von Lovis Corinth. Werkkatalog, München 1958, Nr. 835

L5 Kunstausstellungen. Chemnitz [Ausstellung der Neuerwerbungen 1920–1930], in: Der Kunstwanderer, August 1930, S. 444

L6 Esther Tisa Francini, Anja Heuss und Georg Kreis, Fluchtgut – Raubgut. Der Transfer von Kulturgütern in und über die Schweiz 1933–1945 und die Frage der Restitution, Zürich 2001, S. 145, 156

L7 Deutsche Nach-Impressionistische Kunst aus Berliner Privatbesitz, Ausst.-Kat. Kronprinzenpalais Berlin 1928

L8 Jürgen Nitsche und Ruth Röcher (Hrsg.), Juden in Chemnitz. Die Geschichte der Gemeinde und ihrer Mitglieder. Mit einer Dokumentation des jüdischen Friedhofs, Dresden 2002, S. 369

L9 Ludwig Pallat, Richard Schöne. Generaldirektor der Königlichen Museen zu Berlin. Ein Beitrag zur Geschichte der preußischen Kunstverwaltung 1872–1905, Berlin 1959