Die Galerie des 20. Jahrhunderts in West-Berlin
Ein Provenienzforschungsprojekt


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Karl Schmidt-Rottluff (1884–1976)
Kauernder Akt, 1905

Öl auf Pappe auf Leinwand
71 x 57 cm

Standort
Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin

1961 erworben durch das Land Berlin
Ankaufspreis: 20.000 DM

Weitere Werkdaten

Abweichende Titel
Mädchenakt; Weiblicher Akt

Bezeichnung Vorderseite / Sichtfläche
unten rechts: K. Schmidt-Rottluff / 1905

Inventarnummern
Staatliche Museen zu Berlin: B 514
Inventar Land Berlin: 514
Weitere Nummern: 38/514

Werkverzeichnis-Nummer
Grohmann WV S. 281

Foto: Anders, Jörg P. / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016
Provenienz
1905 bis 1921 Schmidt-Rottluff Q14 Q15
1921 Kunstverein Chemnitz (verkauft für 5.000 M) Q14 Q16
1921 bis wohl nach 1945 (nachweislich bis mindestens 1927) Dr. Alfred Buschkiel, Chemnitz, Bremen und Berlin, erworben beim Kunstverein Chemnitz L4 L6 Q12 Q13 Q17
1954 Galerie Aenne Abels, Köln L3 Q8 Q10
1956 Dr. C. Richartz, Amsterdam L4 Q20 Q25
1959 wohl Galerie Roman Norbert Ketterer, Stuttgarter Kunstkabinett Q20
seit 1959 Privatsammlung Kurt Reutti, Berlin Q21 Q24 Q26
1961 Galerie Gerd Rosen, Berlin Q5
1961 bis 1968 Galerie des 20. Jahrhunderts, Berlin, erworben bei der Galerie Rosen Q1
seit 1968 als Dauerleihgabe des Landes Berlin in der Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
Karl Schmidt-Rottluffs „Kauernder Akt“ von 1905 hat eine bewegte Geschichte. 1959 hatte Kurt Reutti das Bild, vermutlich aus der Galerie Roman Norbert Ketterer,Q6 Q20 für seine Sammlung erworben. Edwin Redslob berichtete er von diesem Kauf: „Von meiner Reise habe ich reiche Beute mitgebracht: […] das erste Ölbild, das Schmidt-Rottluff 1905 als 21jähriger beim Eintritt in die Brücke gemalt hat. […] Dieses Bild war von späteren Besitzern mit einem grauen Schmutzfirnis überzogen und völlig sinnlos übermalt worden.“Q26 Auch durch den Zweiten Weltkrieg hatte das Bild stark gelitten. Durch Brandeinwirkung war es im unteren Teil beschädigt und in der Folge zweimal intensiv und wenig professionell restauriert worden. 1959 schrieb Schmidt-Rottluff an Wilhelm Arntz: „Ja, das ist leider die Tragödie mit diesem Bild, vom Original ist nicht viel übrig geblieben. Es war mir vor paar Jahren von 2 verschiedenen Stellen hier vorgeführt worden – eine arge Ruine, offenbar bombengeschädigt. Ganze Teile fehlten und sonst böse Löcher. Erhalten war unglücklicherweise die untere rechte Ecke mit der Signatur!“Q6 Der schlechte Zustand des Gemäldes hatte Schmidt-Rottluff 1954 dazu bewogen, es bei einer anlässlich seines 70. Geburtstags veranstalteten Wander-Retrospektive nach den ersten Stationen in Hamburg und Kiel kurzfristig abzuziehen, sodass es bei den Folgestationen in Berlin und Nürnberg nicht mehr zu sehen war.Q8 Q9 Adolf Jannasch, mit dem er als Mitglied der Ankaufskommission der Galerie des 20. Jahrhunderts in engem Kontakt stand, hatte er kurz zuvor sein Leid geklagt: „Der ‚Mädchenakt‘ von 1905 macht mir Kummer. Das Bild sah ich nun zum 2ten Mal in Hbg u. habe doch Einspruch erhoben, dass es ausgestellt wird. Es ist zu 2 Dritteln eine Fälschung – u. m. A. nach geht es nicht an, es als Original zu präsentieren.“Q11 Unter welchen genauen Umständen die im Krieg erlittenen Schäden am Bild entstanden, ist nicht belegt.

Am 27. Mai 1921 hatte der damals noch in Chemnitz ansässige Sammler Alfred Buschkiel das Bild für 5.000 Mark aus einer Schmidt-Rottluff-Ausstellung im Kunstverein Chemnitz gekauft.Q14 Bis dahin hatte es dem Künstler gehört, wie ein Brief an Friedrich Schreiber-Weigand, Leiter des Städtischen Kunstmuseums in Chemnitz, belegt: „Ihr Brief brachte mir eine große Überraschung. Ich hatte so wenig mit der Möglichkeit eines Verkaufs in Chemnitz gerechnet, dass es eine große Freude für mich war.“Q16 1927 wurde „Kauernder Akt“ auf Bitten Schmidt-Rottluffs als Leihgabe aus dem Besitz Buschkiels bei der Galerie Arnold in Dresden gezeigt.L6 Q17

Die Biografie des Bankiers Buschkiel, der die NS-Zeit durchgängig und ohne Verfolgung in Deutschland verbrachte, gibt keinen Anlass, den Verbleib des Bildes in seinem Besitz bis in die Nachkriegszeit anzuzweifeln. Dr. Alfred Hermann Buschkiel war am 4. März 1886 in Chemnitz als Sohn großbürgerlicher evangelischer Eltern geboren worden.Q13 Q19 Sein kunstsinniger Vater Ludwig Buschkiel (1848–1939) war bis 1923 im Vorstand der Kunsthütte Chemnitz aktiv (freundliche Mitteilung von Beate Ritter, Kunstsammlungen Chemnitz, 9.6.2011). Nach seiner Promotion über „Das Kassen- und Zahlungswesen der staatlichen und kommunalen Behörden im Königreich Sachsen“ trat Buschkiel 1909 in ein auf Bank- und Handelswesen ausgelegtes Berufsleben ein.Q13 1919 bis 1928 war er Mitinhaber der Firma Dietzel & Buschkiel OHG in Chemnitz, aus deren Firmenvermögen in Berlin ihm und seinem Partner 1925 das dortige Grundstück Bamberger Straße 58 übertragen wurde.Q23 Von 1929 bis 1933 arbeitete Buschkiel in leitender Position mit substanziellem Einkommen bei der Commerz- und Privat-Bank in Chemnitz und begleitete sie über die Bankenkrise hinweg.L7 Zwei Jahre später zog er nach Bremen,Q19 wo er bis zu seiner Übersiedelung nach Berlin 1939 lebte. In den Berliner Adressbüchern ist er von 1940 bis 1943 als Kaufmann beziehungsweise ab 1941 als „Dr. rer. Publ. Abteilungsleiter“ (Doktor der Verwaltungswissenschaften) in der Thielallee 37 in Dahlem erfasst. 1948/49 betrieb Buschkiel, nun wohnhaft in der Schildhornstraße 103 in Steglitz, gemeinsam mit Heinz Henschel im amerikanischen Sektor Berlins die „Wechselstuben Fa. Atlantic-Express“.Q22

Als „Kauernder Akt“ 1954 auf der Schmidt-Rottluff-Ausstellung in Kiel gezeigt wurde, wies der Begleitkatalog das Werk als eine Leihgabe der Galerie Aenne Abels aus.L3 Um die gleiche Zeit empfahl Klaus Leonhardi in einem Schreiben an Adolf Jannasch das „sehr frühe Bild von Aenne Abels aus Köln ‚Weiblicher Akt 1905‘“ für Berlin.Q10 Jannasch behielt das Gemälde im Auge, wenngleich bis zur Erwerbung für die Sammlung der Galerie des 20. Jahrhunderts noch sechs Jahre vergehen sollten. 1959 war es, nachdem es sich die zweite Hälfte der 1950er-Jahre in Amsterdamer Besitz befunden hatte,L4 Q20 Q25 bei Kurt Reutti angekommen, dem eine Erbschaft seit 1944 die Zusammenstellung einer privaten Kunstsammlung erlaubte.L8 Bereits im Januar 1960 wollte Reutti das Bild jedoch wieder abgeben, wie ein Brief an Schmidt-Rottluff zeigt: „Als ich vor kurzem bei Ihnen war, erzählten Sie, daß Ihnen der ‚Kauernde Akt‘ in dem desolaten Zustande zum Kauf angeboten worden war, und Sie meinten, daß Sie ihn doch hätten nehmen sollen. Ich erlaube mir nun die Anfrage, ob Sie tatsächlich an dem Bild Interesse haben, und ich möchte Ihnen in diesem Falle einen Tausch vorschlagen. So sehr ich das Bild schätze, steht es in meiner Sammlung zeitlich vereinzelt. […] Ich könnte mir nun aber denken, daß für Sie […] der Besitz dieses Erstwerkes wichtig sein könnte.“Q21 1961 wurde das Bild – aus dem Besitz von Schmidt-Rottluff oder Reutti, der Gerd Rosen kannte und stets die Angebote der Kunsthandlung beobachtete – in der Galerie Rosen in Berlin zum Verkauf angeboten. Dort erwarb es Jannasch im Mai 1961 für die Galerie des 20. Jahrhunderts.

Recherche: HS | Text: CT

Außenrahmen oben links, Bleistift: G 1/1
Außenrahmen oben Mitte links: Aufkleber Ausstellung Montréal
Außenrahmen oben Mitte rechts: Aufkleber Ausstellung Kunsthalle Emden
Außenrahmen oben rechts: Klebespuren eines abgelösten Etiketts
Keilrahmen oben links, Bleistift: Va[unleserlich]
Keilrahmen oben Mitte rechts: Aufkleber der Galerie des 20. Jahrhunderts
Keilrahmen oben Mitte bis oben rechts, Bleistift: K. Schmidt-Rottluff Kauernder Akt

Q1 Inventarverzeichnis für Kunstwerke Berlins in der Nationalgalerie B 3000/306 [Inventar der Galerie des 20. Jahrhunderts (West)], 2 Bde., 1949–1982, Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten, Berlin, Eintrag vom 30.5.1961

Q2 Protokoll der Sitzung der Ankaufskommission vom 30.5.1961, Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, II/VA 6754, Bl. 58 f, und Landesarchiv Berlin, B Rep. 002-11248

Q3 Liste der Kunstwerke, die am 6.6.1968 aus dem Depot der Galerie des 20. Jahrhunderts an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz übergeben wurden, o. D., Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, Bl. 3 (Depot Q)

Q4 Liste Platten – Kasten IV, Galerie S–Z, Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, Ordner B: Vereinigte Kunstsammlungen

Q5 Lieferschein der Galerie Gerd Rosen, 2.3.1961, Bildakte Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie

Q6 Brief Karl Schmidt-Rottluff an Kunstarchiv Arntz, 27.4.1959, Getty Research Institute, Research Library, Arntz (840001) Box I, folder 56

Q7 Übersicht Haushaltsmittel 1961, 23.1.1962, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 10-0302-04-187.1

Q8 Brief Aenne Abels an Adolf Jannasch, 22.6.1954, Ausstellungsakte „Schmidt-Rottluff“ 1954, Landesarchiv Berlin, B Rep. 014-2162

Q9 Brief Adolf Jannasch an Aenne Abels, 27.9.1954, Ausstellungsakte „Schmidt-Rottluff“ 1954, Landesarchiv Berlin, B Rep. 014-2162

Q10 Brief Klaus Leonhardi an Adolf Jannasch, 22.6.1954, Landesarchiv Berlin, B Rep. 014-2163

Q11 Brief Schmidt-Rottluff an Adolf Jannasch, 23.8.1954, Landesarchiv Berlin, B Rep. 014-2163

Q12 eigenhändige Werkliste Schmidt-Rottluff, Ausstellungsakten Karl Schmidt-Rottluff, Galerie Arnold 1926, Deutsches Kunstarchiv Nürnberg, NL Arnold/Gutbier, I,B-183

Q13 Personenakte Dr. Alfred Herrmann Buschkiel, Bestand 33195 Commerzbank AG, Filialen Chemnitz, Reichenbach, Zwickau, Nr. 75, Sächsisches Staatsarchiv Chemnitz

Q14 Ausstellungsbuch Kunsthütte Chemnitz, Bd. 1, Juni 1919–Februar 1925, Archiv der Kunstsammlungen Chemnitz

Q15 Brief Karl Schmidt-Rottluff an Friedrich Schreiber-Weigand, 19.9.1921, Archiv der Kunstsammlungen Chemnitz

Q16 Brief Karl Schmidt-Rottluff an Friedrich Schreiber-Weigand, 20.10.1921, Archiv der Kunstsammlungen Chemnitz

Q17 Brief Karl Schmidt-Rottluff an Friedrich Schreiber-Weigand, 3.2.1927, Archiv der Kunstsammlungen Chemnitz

Q18 Brief Karl Schmidt-Rottluff an Friedrich Schreiber-Weigand, 24.9.1927, Archiv der Kunstsammlungen Chemnitz

Q19 Meldekarte Alfred Buschkiel, Staatsarchiv Bremen

Q20 Brief Kunstarchiv Arntz an Karl Schmidt-Rottluff, 21.4.1959, Schmidt-Rottluff-Archiv der Karl und Emy Schmidt-Rottluff-Stiftung im Brücke Museum, Berlin [Gegenkorrespondenz zu Q6]

Q21 Brief Kurt Reutti an Karl Schmidt-Rottluff, 15.1.1960, Schmidt-Rottluff-Archiv der Karl und Emy Schmidt-Rottluff-Stiftung im Brücke Museum, Berlin

Q22 Verwaltungsstreitsache Dr. Alfred Buschkiel und Heinz Henschel, Aufhebung einer Verfügung des Preisamts, 1948/49, Landesarchiv Berlin, B Rep. 074-3556

Q23 Sammelakte Streitverfahren wider den Magistrat zu Berlin betr. Wertzuwachssteuer, Bezirksamt Schöneberg, Landesarchiv Berlin, B Rep. 031-01, Nr. 3866

Q24 Sammler-Notizbuch Adolf Jannasch, Privatbesitz

Q25 Teilnachlass Will Grohmann, Unterlagen zum Werkverzeichnis, Werkliste o. D., Archiv Brücke Museum, Berlin

Q26 Brief Kurt Reutti an Edwin Redslob, 23.7.1959, Deutsches Kunstarchiv Nürnberg, NL Redslob, Edwin, I,C-24

L1 Die Galerie des 20. Jahrhunderts. Katalog, hrsg. vom Senator für Volksbildung, Berlin 1963, Nr. 197

L2 Verzeichnis der Vereinigten Kunstsammlungen: Nationalgalerie (Preußischer Kulturbesitz) und Galerie des 20. Jahrhunderts (Land Berlin), hrsg. von den Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz, Berlin 1968, S. 185

L3 Karl Schmidt-Rottluff zum 70. Geburtstag. Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen, Graphik, Skulpturen, Ausst.-Kat. Kunsthalle zu Kiel, Kiel 1954, Nr. 1

L4 Will Grohmann, Karl Schmidt-Rottluff, Stuttgart 1956, S. 169, 281

L5 Sonder-Ausstellung Schmidt-Rottluff, Ausst.-Kat. Galerie Ferdinand Moeller, Berlin 1919, Nr. 1, Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, V/Sammlung Künstler: Schmidt-Rottluff, Karl, Drucksachen

L6 Karl Schmidt-Rottluff, Ausst.-Kat. Galerie Arnold, Dresden 1927, Nr. 1

L7 Ludolf Herbst und Thomas Weihe (Hrsg.), Die Commerzbank und die Juden. 1933–1945, München 2004, S. 46 f.

L8 Anne Buschhoff, Kurt Reutti und seine Verdienste um die Kunsthalle Bremen, in: Ernst Barlach. Kaviar statt Brot. Kurt Reutti. Sammler und Stifter, Ausst.-Kat. Kunsthalle Bremen, Leipzig 2001, S. 8–22