Die Galerie des 20. Jahrhunderts in West-Berlin
Ein Provenienzforschungsprojekt


zurück

George Grosz (1893–1959)
Nachtstück (Berlin-Südende), 1915

Öl auf Leinwand
74,5 x 36,2 cm

Standort
Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin

1964 erworben durch das Land Berlin
Ankaufspreis: 15.000 DM

Weitere Werkdaten

Abweichende Titel
Südende; Berlin-Südende bei Nacht

Bezeichnung Vorderseite / Sichtfläche
unbezeichnet

Inventarnummern
Staatliche Museen zu Berlin: B 686
Inventar Land Berlin: 686
Weitere Nummern: 80/63

Foto: Anders, Jörg P. / © Estate of George Grosz, Princeton, N. J. / VG Bild-Kunst, Bonn 2016
Provenienz
bis mindestens 1918 im Besitz des Künstlers, Berlin-Südende Q18
1922 Galerie von Garvens, Hannover, wohl als Leihgabe oder in Kommission L6 Q7
1927 Galerie Alfred Flechtheim, Berlin, wohl in Kommission (800,- Mk) Q6 Q19 L3 L4 (Rückseite)
bis 1959 Otto Schmalhausen, Berlin Q22
1959 bis mindestens 1962 Charlotte Schmalhausen, Berlin, per Erbschaft L7 (Rückseite)
wohl um 1962 bis 1964 Wolfgang Rohde/Goldstein, Berlin Q1 Q2 Q3 Q4
1964 bis 1968 Galerie des 20. Jahrhunderts, Berlin, erworben von Wolfgang Rohde
seit 1968 als Dauerleihgabe des Landes Berlin in der Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
1964 ließ Adolf Jannasch 15.000 DM für das „Nachtstück“ von George Grosz an einen Herrn Wolfgang Rohde in Berlin überweisen. Nach aufwendigem Aktenstudium stellte sich heraus, dass Wolfgang Rohde identisch ist mit Wolfgang Goldstein (geb. am 27.7.1917 in Berlin-Charlottenburg), nach den „Nürnberger Rassengesetzen“ eingestuft als „Mischling Ersten Grades“ und nach dem Krieg als „rassisch Verfolgter“ anerkannt.Q26 Den Mädchennamen seiner Mutter (Rohde) hatte er, polizeilich beurkundet, 1954 angenommen.Q26 Sein jüdischer Vater Oskar Goldstein, ein Charlottenburger Textilkaufmann, war 1944 ins KZ Theresienstadt deportiert worden und galt als seither verschollen.Q26 Q27

Äußerst besorgniserregend wäre diese Provenienz, wenn nicht für 1962 Charlotte Schmalhausen als Voreigentümerin des Bildes belegt wäre; als ihre Leihgabe zeigte es in jenem Jahr die Grosz-Ausstellung der Berliner Akademie der Künste.L7 Rohde kann es also maximal zwei Jahre in seinem Besitz gehabt haben – zu einer Zeit, als er finanziell äußerst bedürftig, erwerbslos, Sozialhilfeempfänger und mit Steuerschulden behaftet war.Q26 Offenbar besserte er seinen Lebensunterhalt in der Nachkriegszeit durch gelegentlichen Kunsthandel auf.

Charlotte Schmalhausen war seit 1922 mit Otto Schmalhausen (geb. am 30.1.1890 in Antwerpen) verheiratet, der ihr das Bild mit seinem Tod am 20. März 1959 vererbte. Otto Schmalhausen, evangelisch mit vier „arischen“ Großeltern,Q21 arbeite als Zeichner und Lektor in Berlin. Bis 1927 war er freiberuflich für verschiedene Verlage, Theater und Filmgesellschaften tätig, 1928 bis 1934 als künstlerischer Berater der Verlage Ullstein und Propyläen. Anschließend lehrte er bis 1940 an der Textil- und Modefachschule Berlin und diente in den folgenden beiden Jahren als Kartenzeichner beim Reichsluftfahrtministerium. 1947 wurde er Dozent für Freihandzeichnen an der Friedrich-Wilhelms-Universität (heute Humboldt-Universität) zu Berlin. Seine Ehefrau Charlotte war die jüngere Schwester von George Grosz’ Ehefrau Eva. Beide Familien waren schon vor der Heirat eng befreundet, nachdem Schmalhausen und Grosz zusammen Kunst studiert und 1920 gemeinsam an der „Ersten Internationalen DADA-Messe“ teilgenommen hatten. Nicht nur ein Gemälde von Grosz besaßen Schmalhausens, wie Jannasch in seinem Sammler-Notizbuch notierte: „Schmalhausen Grosz (vieles)“.Q22

Bevor das Ehepaar Schmalhausen das Bild erwarb, übergab Grosz dieses jedoch 1927, aller Wahrscheinlichkeit nach in Kommission,L4 an die Galerie Flechtheim, mit der er bis Ende 1931 unter Vertrag stand. Der Keilrahmen des Gemäldes trägt ein Etikett mit einem Adressstempel des Künstlers und dem handschriftlichen Vermerk „No. 19 Galerie Flechtheim / Nachtstück 1915“ sowie in Rot die Nummer „B7168“. Nummer 19 bezieht sich auf das im Archiv der Akademie der Künste verwahrte „Logbuch“ von George Grosz,Q19 in dem das „Nachtstück“ entsprechend verzeichnet ist. Noch 1918 ist es durch eine Fotografie im Atelier Grosz in Berlin-Südende nachgewiesen, das er 1915 bezogen hatte.Q18 Bei der roten „B7168“ handelt es sich um eine Nummer der Berliner Filiale der Galerie Flechtheim. Vom 7. bis 26. Februar 1927 war das Gemälde dort in der „Ausstellung von Ölgemälden von George Grosz und Kongo-Skulpturen“ zu sehen.L3 Dass Alfred Flechtheim es aus der Ausstellung an Schmalhausen verkaufte, wenngleich sich eine Verbindung zwischen Händler und Sammler nicht belegen lässt, ist ein ebenso denkbares Szenario wie dass es unverkauft an den Künstler zurückgesandt und von diesem später direkt den Verwandten übergeben wurde.

Anscheinend hatte Grosz schon 1922 einen ersten Versuch unternommen, das Bild zu veräußern. Im April 1922 war es in der Galerie von Garvens in Hannover zu sehen.L6 Deren Inhaber, der vermögende Herbert von Garvens-Garvensburg (1883–1923), Sammler, Galerist und Vorstandsmitglied der Kestner-Gesellschaft Hannover, hatte 1920 in seiner elterlichen Villa in Hannover-Herrenhausen eine Kunsthandlung mit „volksbildendem Charakter“ eingerichtet, die er unter Mitarbeit von Hanns Krenz und Richard Haizmann nur bis Ende 1923 führte. „Er, H. von G., war sehr wohlhabend. Er lebte mit zwei ‚Helfern‘ in einem alten Gutshaus, oder besser: Schloß in der Stadt. Er war auch so eine Art Amateur-Kunsthändler – gab mir in seinem kleinen Palais eine Einmann-Show“, berichtete Grosz 1952 und erinnerte sich vor allem an das bemerkenswerte Interieur, das er anlässlich der Eröffnung kennenlernte: „Sein Schlafzimmer war sehenswert: alles in Schwarz, voller Kaktusse, man bekam eine Gänsehaut; an der Wand mein kleiner Frauenmörder [Grosz-Gemälde] und ein paar erstklassige James Ensors. […] Ich kam nach Hannover zur Eröffnung meiner Show. Mir zu Ehren veranstaltete er statt des üblichen Empfangs einen Kostümball – eine höchst unheimliche Affäre: es war, als ob ich von lauter kleinen oder größeren Frauenmördern umgeben wäre. Ja, das war H. von G. Das Letzte, was ich von ihm hörte, war eine Postkartennachricht aus Bornholm in Dänemark.“Q10

Für seine Ausstellungen kaufte von Garvens gezielt Werke in den Künstlerateliers ein, etwa auch bei Otto Dix, Oskar Kokoschka und Emil Nolde, die er anschließend in seine Privatsammlung integrierte. Daneben übernahm er Gemälde in Kommission, zu denen auch das „Nachtstück“ gehört haben dürfte. Als Ankäufe von Grosz sind vier Zeichnungen registriert.Q16 Zudem ist die Privatsammlung von Garvens’ recht gut dokumentiert, denn 1924 erstellte er eine Sammlungsliste, als das Wallraf-Richartz-Museum in Erwägung zog, seine Sammlung zu erwerben, womit Köln „mit einem Schlag in den Besitz einer hervorragenden Sammlung internationaler moderner Kunst“ gekommen wäre.L2 Die Verhandlungen scheiterten an den horrenden Forderungen des Sammlers. Nach dieser Kölner Episode trat von Garvens kaum mehr in Erscheinung, zog sich für einige Jahre ins Ostseebad Prerow zurück und ließ sich 1931 auf der dänischen Insel Bornholm nieder. Auf der anlässlich des geplanten Verkaufs erstellten Liste ist das „Nachtstück“ jedenfalls nicht verzeichnet,Q7 ebenso wenig in der sich auf verschiedene Quellen stützenden Sammlungsrekonstruktion von Katrin Vester 1989.L5 Offenbar also ging das Bild auch aus Hannover unverkauft zurück an den Künstler, in dessen Atelier es noch bis mindestens 1927 nachweisbar ist.

Recherche: HS | Text: HS

Leinwandrückseite oben rechts: Grosz / 15 / Südende
Keilrahmen oben links, Nummer: 39
Keilrahmen oben Mitte, Aufkleber mit Adressstempel Grosz (201 Hohenzollerndamm); handschriftlich, Tinte: No. 19 Galerie Flechtheim / Nachtstück 1915; handschriftlich, rot: B7168
Keilrahmen oben rechts, rot: B7168 [Inv.-Nr. Flechtheim]
Keilrahmen rechts oben, blau: 39
Keilrahmen rechts Mitte, Signatur: Grosz / 15
Keilrahmen unten links: Aufkleber der Galerie des 20. Jahrhunderts mit Inv.-Nr. [unleserlich]80/63
Keilrahmen unten Mitte: getilgter Besitzaufkleber [vermutlich Charlotte Schmalhausen, Berlin-Charlottenburg]
Keilrahmen unten rechts, Nummer: [unleserlich]27
Außenrahmen oben rechts, Aufkleber: Kat. Nr. 20

Rückseite
Foto: Kilger, Andres
Rückseite
Foto: Kilger, Andres

Q1 Inventarverzeichnis für Kunstwerke Berlins in der Nationalgalerie B 3000/306 [Inventar der Galerie des 20. Jahrhunderts (West)], 2 Bde., 1949–1982, Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten, Berlin, Eintrag vom 12.3.1964

Q2 Liste der Kunstwerke, die am 6.6.1968 aus dem Depot der Galerie des 20. Jahrhunderts an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz übergeben wurden, o. D., Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, Bl. 2 (Depot I)

Q3 Protokoll der Ankaufskommission, 10.3.1964, Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, II B/Galerie des 20. Jahrhunderts – Land Berlin 15, Bl. 378, und Landesarchiv Berlin, B Rep. 014-1893

Q4 Rechnung Rohde an die Galerie des 20. Jahrhunderts, 12.3.1964, Bildakte Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie

Q5 Rückerstattungsantrag Ulrich Bühring, Erbe von Herbert von Garvens-Garvensburg, 13.1.1961, Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover, Nds 120 Hann. Acc. 99/77, Nr. 86

Q6 Einladung zur Ausstellung von Ölgemälden von George Grosz und Kongo-Skulpturen. Galerie Flechtheim 1927, Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, V/Sammlung Künstler: Grosz, George, Drucksachen 01192/7

Q7 Liste Garvens-Stiftung, 1.6.1924, Stadt Köln, Historisches Archiv, Microfilm Best. 47-52, Nr. 228, Bl. 221 [publiziert in L5]

Q8 Brief Herbert von Garvens-Garvensburg an George Grosz, 26.5.1922, Akademie der Künste, Berlin, George-Grosz-Archiv, Nr. 215

Q9 Brief Herbert von Garvens-Garvensburg an George Grosz, 4.4.1922, Akademie der Künste, Berlin, George-Grosz-Archiv, Nr. 215

Q10 Brief George Grosz an Marc Sandler, 20.6.1952, in: Herbert Knust (Hrsg.), George Grosz. Briefe 1913–1959, Reinbek bei Hamburg 1979, S. 457

Q11 Korrespondenz zwischen Alfred Flechtheim und George Grosz, 1927, Akademie der Künste, Berlin, George-Grosz-Archiv, Nr. 429–453

Q12 Abrechnung Hans Goltz, 15.12.1921, Akademie der Künste, Berlin, George-Grosz-Archiv, Nr. 548

Q13 An Hans Goltz gelieferte Arbeiten, Gesamtliste, 7.6.1919 und 11.1.1919, Akademie der Künste, Berlin, George-Grosz-Archiv, Nr. 1029

Q14 Eingangsbestätigungen der von Hans Goltz in Kommission übernommenen Gemälde, 24.1.1919 und 4.7.1919, Akademie der Künste, Berlin, George-Grosz-Archiv, Nr. 1029

Q15 Lieferungsliste Hans Goltz für die „Ausstellung Garvens“, Akademie der Künste, Berlin, George-Grosz-Archiv, Nr. 1030

Q16 Quittung Herbert von Garvens-Garvensburg, 16.5.1922, Akademie der Künste, Berlin, George-Grosz-Archiv, Nr. 1167

Q17 Quittungen Hugo Simon, 13.10.1927, 3.8.1927, 31.5.1927, Akademie der Künste, Berlin, George-Grosz-Archiv, Nr. 1166

Q18 Fotografie aus dem Atelier George Grosz, 1918, in: Ralph Jentsch, George Grosz. Berlino – New York, Mailand 2007, S. 260

Q19 Logbuch George Grosz, Nr. 19, Akademie der Künste, Berlin, George-Grosz-Archiv, Nr. 966 und 967

Q20 Rückerstattungssache Wolfgang Rohde gegen Deutsches Reich, Landesarchiv Berlin, B Rep. 025-07-188/69

Q21 Personenakte Otto Schmalhausen, Reichskammer der Bildenden Künste, Landesarchiv Berlin, A Rep. 243-04-9160

Q22 Sammler-Notizbuch Adolf Jannasch, Privatbesitz

Q23 Windsor-Schuhe Wolfgang Goldstein, Amtsgericht Charlottenburg, Landesarchiv Berlin, B Rep. 042-32831

Q24 Verfahren gegen Kunsthändler Reinheldt, Wolfgang Goldstein u. a. (Devisenvergehen), 1942, Akten des Oberfinanzpräsidiums – Zollfahndungsstelle, Landesarchiv Berlin, A Rep. 092-397

Q25 Reichskammer der Bildenden Künste – Personenakte Curt Reinheldt, Landesarchiv Berlin, A Rep. 243-04-7085

Q26 Entschädigungsakte Rohde, Wolfgang, Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten Berlin, Reg.-Nr. 2926

Q27 Entschädigungsakte Goldstein, Oskar, Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten Berlin, Reg.-Nr. 8563

Q28 Entschädigungsakte Rohde, Else, Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten Berlin, Reg.-Nr. 200.578

L1 Verzeichnis der Vereinigten Kunstsammlungen: Nationalgalerie (Preußischer Kulturbesitz) und Galerie des 20. Jahrhunderts (Land Berlin), hrsg. von den Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz, Berlin 1968, S. 86

L2 Katrin Vester, Herbert von Garvens-Garvensburg. Sammler, Galerist und Förderer der Modernen Kunst in Hannover, in: Henrike Junge (Hrsg.), Avantgarde und Publikum. Zur Rezeption avantgardistischer Kunst in Deutschland 1905–1933, Köln u. a. 1992, S. 93–102

L3 Ausstellung von Ölgemälden von George Grosz und Kongo-Skulpturen, Ausst.-Kat. Galerie Alfred Flechtheim Berlin 1927, Nr. 2

L4 Ralph Jentsch, Alfred Flechtheim und George Grosz. Zwei deutsche Schicksale, Bonn 2008, S. 63

L5 Katrin Vester, Herbert von Garvens-Garvensburg. Sammler und Galerist im Hannover der frühen zwanziger Jahre, 2 Bde., Magisterarbeit Hamburg 1989

L6 XV. Ausstellung. April 1922. George Grosz, Ausst.-Kat. Galerie von Garvens Hannover 1922, Nr. 1

L7 George Grosz 1893–1959, Ausst.-Kat. Akademie der Künste Berlin 1962, Nr. 2