Die Galerie des 20. Jahrhunderts in West-Berlin
Ein Provenienzforschungsprojekt


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Karl Schmidt-Rottluff (1884–1976)
Häuser bei Nacht, 1912

Öl auf Leinwand
76,2 x 84,3 cm

Standort
Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin

1962 erworben durch das Land Berlin
Ankaufspreis: 60.000 DM

Weitere Werkdaten

Abweichende Titel
Straße mit Häusergruppe

Bezeichnung Vorderseite / Sichtfläche
unten links: S. Rottluff 1912

Inventarnummern
Staatliche Museen zu Berlin: B 565
Inventar Land Berlin: 565
Weitere Nummern: 44/565

Werkverzeichnis-Nummer
Grohmann WV S. 285; Wietek WV 265

Foto: Anders, Jörg P. / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016
Provenienz
vor 1942 Anita Clara Amalie (Annie) Tamm, geborene Hopf, Hamburg, wohl erworben vom Künstler L3
wohl 1942/43 Elsa Hopf, Hamburg, per Erbschaft
wohl 1943 bis um 1945 Prof. Dr. Eduard Hopf, Hamburg, per Erbschaft
zwischen etwa 1945 und 1947 ein unbekannter Restaurator
wohl April/Mai 1947 Galerie Rudolf Hoffmann, Hamburg Q8
Privatsammlung Hamburg Q8
wohl Galerie Alex Vömel, Düsseldorf
„Nicht sehr lange“ Dr. Jürgen Frese, Köln-Hahnwald Q1 Q6
1962 Galerie Wilhelm Grosshennig, Düsseldorf Q1 L8 L9 Q10 Q12
1962 bis 1968 Galerie des 20. Jahrhunderts, Berlin, erworben aus Mitteln der Deutschen Klassenlotterie bei der Galerie Wilhelm Grosshennig Q1
seit 1968 als Dauerleihgabe des Landes Berlin in der Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
Die Provenienzrecherche zu diesem Gemälde beruht zu großen Teilen auf Zeitzeugenberichten, Erinnerungen von Nachkommen und mündlicher Familienüberlieferung. Deshalb ist die Provenienzkette lückenhaft und in ihrer absoluten Chronologie vage. Belastbare schriftliche Dokumente zur Geschichte des Werks existieren wenige. 1956 bezeichnete Will Grohmann in seiner Biografie Karl Schmidt-Rottluffs die „Häuser bei Nacht“ sogar als „verschollen“.L5

Karl Schmidt-Rottluff hatte in Hamburg im Umfeld des Museums für Kunst und Gewerbe für sich einen engagierten Kreis von Förderern gewinnen können, der sich speziell für sein kunsthandwerkliches Schaffen interessierte. Das Gemälde „Häuser bei Nacht“ befindet sich bis heute in einem ornamentalen Schmuckrahmen, den Schmidt-Rottluff von dem Tischler Jack Goldschmidt nach seinen eigenen Entwürfen hatte anfertigen lassen und den er anschließend eigenhändig bemalte. Mit Goldschmidt arbeitete Schmidt-Rottluff auch bei der Produktion seiner in Hamburger Sammlerinnenkreisen besonders begehrten Holzkästchen zusammen. Eine solche Schatulle besaß unter anderem Elsa Hopf (1875–1943), deren jüngere Schwester Annie Tamm, geborene Hopf, die erste Eigentümerin des Gemäldes „Häuser bei Nacht“ war.L3 Die Familien Tamm und Hopf waren eng miteinander verbunden: Sie waren durch drei interfamiliäre Ehen verschwägert und pflegten gemeinsame geschäftliche Beziehungen. Daraus resultierte das Übereinkommen, ein gemeinsames Familiengrab in Ohlsdorf zu erwerben (freundliche Auskunft der Nachkommen, 23.5.2011 und 12.5.2011).

Als Annie Tamm 1942 starb, vererbte sie das Schmidt-Rottluff-Gemälde vermutlich an Elsa Hopf, zu der sie ein sehr vertrautes schwesterliches Verhältnis hatte. Elsa Hopf war als einstiges Passiv-Mitglied der Künstlergemeinschaft Brücke eine der eifrigsten Mäzeninnen Schmidt-Rottluffs. Als eine der ersten promovierten Zahnärztinnen in Deutschland unterhielt sie eine eigene Praxis in der Hamburger Esplanade. Sie lebte in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung mit der wesentlich jüngeren jüdischen Berufskollegin Clara Goldschmidt, die 1934 wegen nationalsozialistischer Repressalien Suizid beging (freundliche Auskunft der Nachkommen, 23.5.2011 und 12.5.2011).L6 Elsa Hopf verstarb nur ein Jahr nach ihrer Schwester und hinterließ das Gemälde wiederum ihrem Neffen Gustav Helmut Eduard Hopf. Dessen Tochter erinnerte sich 2011 an „ein Bild in dunklen und grünen Farben mit einem dominierenden Haus“ in der elterlichen Wohnung.

Professor Eduard Hopf (gest. 1979) blieb aufgrund seiner demokratischen und antinationalsozialistischen Gesinnung von Konfrontationen mit dem Regime nicht verschont. 1938/39 vermietete er dem jüdischen Künstler Paul Henle und seiner „arischen“ Frau in seiner Wohnung ein möbliertes Zimmer. Henle war zu dieser Zeit Zeuge einer Razzia in der Bleibe seines Vermieters: „Während der Zeit unseres Dortseins wurde eines Tages in Herrn Hopfs Abwesenheit die Wohnung von 2 Gestapobeamten überholt d. h. vollständig durchsucht etc. Die Gestapo-Agenten brachen Hopfs Schreibtisch auf, durchwühlten die ganze Wohnung, beschlagnahmten und entfernten eine große Anzahl wertvoller Handzeichnungen und 2 Koffer voll wertvoller Kunst- und Literatur-Bücher. Für den nächsten Tag wurden Hopf und seine Frau zu einem getrennten Verhör in die Dienststelle der Gestapo beordert. Mir selbst und meiner Frau wurde unter Drohungen befohlen, die Hopf’sche Wohnung in 48 Stunden zu verlassen.“Q5 Schmidt-Rottluffs „Häuser bei Nacht“ wurden bei dieser Wohnungsdurchsuchung offenbar nicht konfisziert, erinnern sich doch die Nachkommen, dass Hopf das Bild wegen leichter Beschädigungen zu nicht mehr rekonstruierbarem Zeitpunkt, jedoch frühestens 1945, nach Ende des Krieges, einem namentlich nicht bekannten Restaurator anvertraut habe, der das Bild anschließend unterschlug und nie der Familie zurückgab.

Einige Jahre später tauchte das Gemälde im Hamburger Kunsthandel auf. Galerist Rudolf Hoffmann bestätigte Adolf Jannasch 1962, anlässlich des Ankaufs für die Galerie des 20. Jahrhunderts, dass es durch seine Hände gegangen sei: „Es befand sich in einer Hamburger Privatsammlung, aus der ich es an eine andere Privatsammlung in Hamburg verkauft habe. Von diesem Sammler ist es dann wohl über den Handel in den Besitz Ihrer Galerie gelangt.“Q8 Den Zeitpunkt des Kunstgeschäfts benennt Hoffmann in seinem Brief nicht, doch ist davon auszugehen, dass es anlässlich der im April/Mai 1947 in seiner Galerie ausgerichteten Schmidt-Rottluff-Aufstellung (ohne Katalog) zu sehen war, über die die Zeitschrift „Weltkunst“ berichtete: „Vier Jahrzehnte künstlerischen Schaffens gab die Frühjahrsschau mit Gemälden und Aquarellen Schmidt-Rottluffs wieder, bis heute die einzige Ausstellung mit einem derart umfassenden Gesamtüberblick.“L11

Rudolf Hoffmann war mit seiner Galerie bis Mitte der 1960er-Jahre in der Großen Bleichen 5 in Hamburg ansässig. Er stellte in den teilweise zu einer Galerie umfunktionierten Räumen eines Modesalons seit 1946 überwiegend Werke von zuvor diffamierten Künstlern aus. Zudem war er Mitglied im „Fachausschuss für Bildende Kunst Nr. 7“, der im Februar 1946 gegründet wurde und zur Entnazifizierung im Kultursektor beitragen sollte.L7 1952 besuchte Schmidt-Rottluff die Galerie Hoffmann während einer Hamburg-Reise und schilderte anschließend seiner Freundin Rosa Schapire seine Eindrücke: „Den Laden des von Dir mir empfohlenen Kunsthändlers Hofmann [sic] sahen wir nun auch an. D. h. das ist der Modesalon seiner Frau – Wände hellgelb getönt mit dunkelgelben Portieren – tagsüber Modesalon – abends für Ausstellungsbesucher. Es hat mir aber wenig gefallen.“Q11

1962 erwarb Jannasch das Gemälde für die Galerie des 20. Jahrhunderts in der Düsseldorfer Galerie Wilhelm Grosshennig.L9 In den erhaltenen Geschäftsbüchern der Galerie hat sich der Bilderverkauf nicht niedergeschlagen (freundliche Auskunft von Margret Heuser, 25.10.2011), vermutlich weil der Händler das Bild in Kommission verkauft hat oder sogar nur eine vermittelnde Funktion einnahm, denn in den Bildakten der Nationalgalerie ist ein direkter Kontakt der Galerie des 20. Jahrhunderts mit dem Vorbesitzer Dr. Jürgen Frese in Köln überliefert.Q1 Q6 Q7 „Nicht sehr lange“ befanden sich die „Häuser bei Nacht“ nach Auskunft eines Sohnes im Besitz Freses, des ehemaligen Direktors der Kölner Privatbank Delbrück & Co. Eine langjährige Verbindung hatte Frese zur Galerie Alex Vömel in Düsseldorf, sodass er es vermutlich dort erwarb.

Recherche: HS | Text: HS

unbezeichnet

Q1 Inventarverzeichnis für Kunstwerke Berlins in der Nationalgalerie B 3000/306 [Inventar der Galerie des 20. Jahrhunderts (West)], 2 Bde., 1949–1982, Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten, Berlin, Eintrag vom 21.6.1962

Q2 Protokoll der Übergabe der Bestände der Galerie des 20. Jahrhunderts an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz [Gemälde und Skulpturen aus den Verwaltungs- und Ausstellungsräumen der Galerie], 5.6.1968, Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, S. 2

Q3 Liste Stiftungen Deutsche Klassenlotterie, o. D., Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, Ordner B: Vereinigte Kunstsammlungen

Q4 Liste Platten – Kasten IV, Galerie S–Z, Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, Ordner B: Vereinigte Kunstsammlungen

Q5 Bericht über die Razzia in der Wohnung des Professor Eduard Hopf, Paul W. Henle, Kopie im Archiv für Verfolgte Künstler im Warburg-Haus, Hamburg, zit. n.: Maike Bruhns, Kunst in der Krise, Bd. 1: Hamburger Kunst im „Dritten Reich“, Hamburg 2001, S. 623

Q6 Bestellzettel an Jürgen Frese, 9.8.1962, Bildakte Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie

Q7 Gutachten Edwin Redslob, 25.5.1962, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 04-0700-12-004.3.8

Q8 Brief Rudolf Hoffmann an Adolf Jannasch, 12.12.1962, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 03-0200-07-065.1.3

Q9 Lieferschein Knauer, 26.4.1962, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 03-04-04-01-114

Q10 Brief Adolf Jannasch an Wilhelm Grosshennig, Düsseldorf, 7.11.1967, Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, IIB/Galerie des 20. Jahrhunderts – Land Berlin, 8, Bl. 13

Q11 Brief Karl Schmidt-Rottluff an Rosa Schapire, 21.9.1952, Archiv Brücke Museum, Berlin

Q12 Verkaufsliste Wilhelm Grosshennig, Januar 1962, Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, II B/Galerie des 20. Jahrhunderts – Land Berlin 8, Bl. 184

L1 Die Galerie des 20. Jahrhunderts. Katalog, hrsg. vom Senator für Volksbildung, Berlin 1963, Nr. 199

L2 Verzeichnis der Vereinigten Kunstsammlungen: Nationalgalerie (Preußischer Kulturbesitz) und Galerie des 20. Jahrhunderts (Land Berlin), hrsg. von den Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz, Berlin 1968, S. 186

L3 Gerhard Wietek, Kunst von Schmidt-Rottluff in hamburgischem und schleswig-holsteinischem Besitz (vor der Aktion „Entartete Kunst“ 1937), in: Gerhard Wietek, Karl Schmidt-Rottluff in Hamburg und Schleswig-Holstein, Neumünster 1984, S. 95–105, hier S. 105, 179, Abb. 51

L4 Gerhard Wietek, Karl Schmidt-Rottluff. Plastik und Kunsthandwerk. Werkverzeichnis, München 2001, S. 370, Nr. 265

L5 Will Grohmann, Karl Schmidt-Rottluff, Stuttgart 1956, S. 285 („verschollen“)

L6 Gerhard Wietek, Karl Schmidt-Rottluff. Zeichnungen auf Postkarten, Köln 2010, S. 223

L7 Maike Bruhns, Kunst in der Krise, Bd. 1: Hamburger Kunst im „Dritten Reich“, Hamburg 2001, S. 232, 242 f.

L8 Wilhelm Grosshennig, Kunsthandel in Düsseldorf 1962–1967, Düsseldorf 1967, o. S.

L9 Margret Heuser (Hrsg.), Ein Leben mit der Kunst. Wilhelm Grosshennig. Chemnitz 1921–1950. Düsseldorf 1951–1983, o. O. 1986, o. S.

L10 Die neuen Räume der Galerie Rudolf Hoffmann in Hamburg, in: Weltkunst, Jg. 24, Nr. 15, August 1954, S. 6, 10

L11 H. Müller-Feldmann, Galerie Rudolf Hoffmann, in: Weltkunst, Jg. 20, Nr. 11, Juni 1950, S. 8