Die Galerie des 20. Jahrhunderts in West-Berlin
Ein Provenienzforschungsprojekt


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Christian Rohlfs (1849–1938)
Dorf, um 1913

Tempera auf Leinwand
74,5 x 110 cm

Standort
Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin

1950 erworben durch das Land Berlin
Ankaufspreis: 1.200 DM

Weitere Werkdaten

Abweichende Titel
Häuser / Dorf zwischen Bäumen; Bauernhäuser

Bezeichnung Vorderseite / Sichtfläche
unten rechts: CR 27

Inventarnummern
Staatliche Museen zu Berlin: B 48
Inventar Land Berlin: 48
Weitere Nummern: 9/25

Werkverzeichnis-Nummer
Vogt WV 543

Foto: CC BY-NC-SA
Provenienz
1925 Vereinigung für Moderne Kunst, Frankfurt am Main L10
1925 bis 1937 Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie Frankfurt am Main, erworben als Schenkung der Vereinigung für Moderne Kunst Q4 Q7 Q8 Q10 L10
ab 1937 Deutsches Reich/Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, Berlin, als „entartet“ beschlagnahmt im Städel Q8
1937/38 in der Ausstellung „Entartete Kunst“, München, Berlin, Leipzig, Düsseldorf, Salzburg
1938 Depot Schloss Schönhausen, Berlin, Lagerung „international verwertbarer“ Kunstwerke Q9
11.3.1939 Bernhard A. Böhmer, Güstrow, in Kommission Q7
1950 Galerie Franz, Berlin Q6
1950 bis 1968 Galerie des 20. Jahrhunderts, Berlin, erworben bei der Galerie Franz Q1 Q6
seit 1968 als Dauerleihgabe des Landes Berlin in der Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
Christian Rohlfs’ Gemälde „Dorf“ tourte 1937/38, nachdem die Nationalsozialisten es aus der Sammlung des Städelschen Kunstinstituts in Frankfurt am Main beschlagnahmt hatten (Beschlagnahme-Verzeichnis Nr. 16100),Q8 (Rückseite) als Exponat der Ausstellung „Entartete Kunst“ durch Deutschland und Österreich: Es wurde in München (Hofgarten-Arkaden, 19.7.–30.11.1937), Berlin (Haus der Kunst, 26.2.–8.5.1938), Leipzig (Grassi-Museum, 13.5.–6.6.1938), Düsseldorf (Kunstpalast, 18.6.–7.8.1938) und Salzburg (Festspielhaus, 4.9.–2.10.1938) gezeigt.Q10 L6 L7 L8

Nach der Ausstellung wurde das Bild als „international verwertbares Kunstwerk“ im Berliner Schloss Schönhausen gelagert.Q9 Eine im Bundesarchiv in Berlin erhaltene Liste belegt, dass der Kunsthändler Bernhard A. Böhmer in Güstrow es im März 1939 von dort als Kommissionsware übernahm.Q7 Für das nachfolgende Jahrzehnt bis 1950, als Adolf Jannasch das „Dorf“ in der Berliner Galerie Franz für die Galerie des 20. Jahrhunderts (West) erwarb,Q1 fehlt jede konkrete Spur zum Verbleib des Werks.

Der in Güstrow ansässige Böhmer war – neben Hildebrand Gurlitt in Hamburg sowie Karl Buchholz und Ferdinand Möller in Berlin – einer der vier Kunsthändler in Deutschland, die offiziell vom NS-Regime mit der „Verwertung“ beschlagnahmter Kunstwerke, also ihrer Veräußerung im Ausland zwecks Devisenbeschaffung, beauftragt waren. Er übernahm nach Ende der „Verwertungsaktion“ zusätzlich die rund 3.000 im Schloss Schönhausen übrig gebliebenen Werke und baute aus dem – offiziellen wie inoffiziellen – Geschäft mit der „entarteten“ Kunst auch privat ein Vermögen auf.

Christian Rohlfs’ Witwe, Helene Rohlfs, hatte das Lager bei Böhmer in Güstrow während der Kriegsjahre besichtigt. In einem Brief an den Kunsthistoriker Walter Kaesbach beschrieb sie 1947 die Hintergründe wie folgt: „Die Bilder wurden seiner Zeit Ausländern, die monatliche Devisenbezüge hatten etwa zum dritten Teil des Marktwerts übereignet gegen ihre Devisenwechsel, gingen in den Kunsthandel und kamen so an die deutschen Privatsammler. Nutzniesser war bei dieser Aktion 1. der Staat, der die Devisen einsteckte und zweitens die Ausländer, die auf diese Weise den dreifachen Marktwert für ihre Devisen bekamen. […] Wie die Bilder zu Böhmer kamen? Sehr wahrscheinlich durch Günther Ranft, den Verwalter von Niederschönhausen, der mit Böhmer in naher Verbindung stand. So viel ich weiss, waren alle Rohlfs aus Ihrer Sammlung noch beisammen als ich sie in Güstrow sah.“Q11

Beim Einmarsch der sowjetischen Besatzungstruppen in Güstrow im Mai 1945 nahm sich Bernhard Böhmer gemeinsam mit seiner Frau Hella, geborene Otte, das Leben. Der noch nicht volljährige Sohn Peter überlebte und erbte den aus unterschiedlichsten Quellen stammenden Nachlass des Kunsthändlers, deponiert im Atelier von Ernst Barlach (dessen Assistent und Handelsvertreter Böhmer sen. bis 1938 gewesen war). Peters Vormundschaft übernahm seine Tante Wilma Zelck (geb. Otte, 1912–1962) in Rostock, zu der er mitsamt einem großen Teil der Kunst zog. Rund 1.000 Werke wurden im März 1947 bei Zelck sichergestellt und im Museum der Stadt Rostock gelagert, einen Rest unbekannter Größe behielt sie. Nach dem Tod ihres Ehemannes Günther im Juni 1945 war sie nach Berlin umgezogen und hatte damit begonnen, aus diesem Kunstbestand zu verkaufen, assistiert von dem Kunsthändler Albert Daberkow, der 1947 bis 1952 auch ihr Lebensgefährte war. Daberkow hatte eine Anzahl von Werken aus dem Nachlass Böhmer in Kommission genommen und auf den Markt gebracht.L11 L12

Ob Rohlfs’ „Dorf“ über Zelck und Daberkow in die Galerie Franz gelangte oder ein (anderer) privater Vorbesitzer es Franz verkauft oder in Kommission gegeben hat, ist nicht belegt. Bemerkenswert ist aber, dass sowohl Rohlfs’ „Dorf“ als auch Otto Muellers „Das Urteil des Paris“ (Inv.-Nr. 9) aus dem ehemaligen Bestand Böhmers 1949/50 über die Galerie Franz für die Galerie des 20. Jahrhunderts erworben wurden und bei beiden Werken dazwischen eine ähnliche Provenienzlücke klafft. Die Vermutung, dass die Werke auf dem gleichen Weg und/oder im selben Konvolut zu Franz gelangten, liegt nahe.

Recherche: HS/CT | Text: CT

Keilrahmen oben links, Etikett: Prof. Chr. Rohlfs / Hagen i. W. Museum / Dorf / P [unleserlich] m 1000[?]; über Originalbeschriftung des Etiketts mit Kugelschreiber: B 48
Keilrahmen oben links: Landschaft
Keilrahmen oben Mitte links: Aufkleber der Galerie des 20. Jahrhunderts
Keilrahmen oben Mitte bis oben rechts: Chr. Rohlfs Hagen i. W.
Keilrahmen oben rechts: Zollstempel [unleserlich]
Keilrahmen Mitte rechts, Aufkleber: Stadt B[erlin] / Berl[in]
Keilrahmen unten rechts, Beschlagnahmenummer, rot: 16100
Leinwand unten rechts: abgelöstes Etikett

Rückseite Beschlagnahmenummer
Foto: Kilger, Andres

Q1 Inventarverzeichnis für Kunstwerke Berlins in der Nationalgalerie B 3000/306 [Inventar der Galerie des 20. Jahrhunderts (West)], 2 Bde., 1949–1982, Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten, Berlin, Eintrag vom 21.6.1950

Q2 Protokoll der Übergabe der Bestände der Galerie des 20. Jahrhunderts an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz [Gemälde und Skulpturen aus den Verwaltungs- und Ausstellungsräumen der Galerie], 5.6.1968, Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, S. 2

Q3 Liste Platten – Kasten III, Galerie M–R, Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, Ordner B: Vereinigte Kunstsammlungen

Q4 Brief Adolf Jannasch an P. A. Ade, Haus der Kunst München, 19.2.1962, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 03-0303-01-046.9 bis -046.10

Q5 Liste Platten – Kasten I, Galerie A–K, 25.7.1957, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 02-0204-02-040.1 bis -040.3, Nr. 66

Q6 Zahlungsanweisung an die Galerie Franz, 21.6.1950, Landesarchiv Berlin, B Rep. 014-1446

Q7 Liste Kommissionsware des Kunsthändlers Bernhard A. Böhmer, 11.3.1939, Bundesarchiv Berlin, R 55/21019, Bl. 18

Q8 Verzeichnis beschlagnahmter Kunstwerke, Reichministerium für Volksaufklärung und Propaganda, Bundesarchiv Berlin, R 55/20745, Bl. 193

Q9 Liste Bestand Niederschönhausen [Schloss Schönhausen], Bundesarchiv Berlin, R 55/21015, Bl. 48

Q10 Foto der Ausstellung „Entartete Kunst München“, Wandbeschriftung, Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, V/Sammlung Künstler: Rohlfs, Christian, Personalia

Q11 Brief Helene Rohlfs an Walter Kaesbach, 6.2.1947, Archiv Städtisches Museum Abteiberg Mönchengladbach

L1 Die Galerie des 20. Jahrhunderts. Katalog, hrsg. vom Senator für Volksbildung, Berlin 1953, Nr. 64

L2 Die Galerie des 20. Jahrhunderts. Katalog, hrsg. vom Senator für Volksbildung, Berlin 1958, Nr. 151

L3 Die Galerie des 20. Jahrhunderts. Katalog, hrsg. vom Senator für Volksbildung, Berlin 1960, Nr. 163

L4 Die Galerie des 20. Jahrhunderts. Katalog, hrsg. vom Senator für Volksbildung, Berlin 1963, Nr. 191

L5 Verzeichnis der Vereinigten Kunstsammlungen: Nationalgalerie (Preußischer Kulturbesitz) und Galerie des 20. Jahrhunderts (Land Berlin), hrsg. von den Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz, Berlin 1968, S. 175

L6 „Degenerate Art“. The Fate of the Avant-Garde in Nazi-Germany, hrsg. von Stephanie Barron, Ausst.-Kat. Los Angeles County Museum of Art, Los Angeles 1991, S. 61, 333

L7 Christoph Zuschlag, „Entartete Kunst“. Ausstellungsstrategien im Nazi-Deutschland, Worms 1995, S. 195

L8 Katrin Engelhardt, Die Ausstellung „Entartete Kunst“ in Berlin. Rekonstruktion und Analyse, in: Uwe Fleckner (Hrsg.), Angriff auf die Avantgarde. Kunst und Kunstpolitik im Nationalsozialismus, Berlin 2007, S. 89–188, hier S. 183

L9 Paul Ortwin Rave, Kunstdiktatur im Dritten Reich, Berlin 1949, Abb. S. 57

L10 Paul Vogt, Christian Rohlfs. Œuvre-Katalog der Gemälde, Recklinghausen 1978, Nr. 543

L11 Meike Hoffmann (Hrsg.), Ein Händler „entarteter“ Kunst. Bernhard A. Böhmer und sein Nachlass, Berlin 2010

L12 Stefan Koldehoff, Die Bilder sind unter uns, Berlin 2009, S. 55 ff.