Die Galerie des 20. Jahrhunderts in West-Berlin
Ein Provenienzforschungsprojekt


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Georg Muche (1895–1987)
Erzählung, 1933

Farb-Mezzotinto (farbige Schablithographie) auf Papier, Ex. I/33
Blattmaß 37,0 x 20,7 cm

Standort
Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin

1955 erworben durch das Land Berlin
Inventarwert: 5.000 DM (für Sammelmappe, Schenkungskonvolut Evert, Nr. 45)

Weitere Werkdaten

Abweichende Titel
Drei Männer und ein Mädchen

Bezeichnung Vorderseite / Sichtfläche
unten links, Bleistift: I/33 Gmuche [Signatur]
unterer Blattrand links, Bleistift: Herzliche Grüße, lieber Evert, die andere Litho ist noch nicht fertig. Ihr GM
unterer Blattrand rechts, Bleistift: Evert

Inventarnummern
Staatliche Museen zu Berlin: 862/28
Inventar Land Berlin: 862/28

Werkverzeichnis-Nummer
Schiller WV 26

Foto: Büttner, Wolfram / © Bauhaus-Archiv / Museum für Gestaltung, Berlin 2016
Provenienz
bis 1955 Heinrich Evert, Berlin
1955 bis 1966 Gertrud Evert, Berlin, per Erbschaft Q5
1966 bis 1968 Galerie des 20. Jahrhunderts, Berlin, erworben von Gertrud Evert, Teil des Schenkungskonvoluts Sammlung Evert, Nr. 45, Sammelmappe Q1
seit 1968 als Dauerleihgabe des Landes Berlin im Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
Im Kupferstichkabinett wurde diese farbige Schablithographie (auch Mezzotinto genannt) von Georg Muche lange unter dem deskriptiven Titel „Drei Männer und ein Mädchen“ geführt. In der Literatur ist das Motiv jedoch mit dem Titel „Erzählung“ verzeichnet.L1 L2 Letzterer sollte als der korrekte Titel gelten.

Das Blatt stammt aus dem Schenkungskonvolut Sammlung Evert, das 1966 durch Gertrud Evert, die Witwe des Kunstsammlers Heinrich Evert, der Galerie des 20. Jahrhunderts vermacht wurde (Inv.-Nr. 835 bis 880). Innerhalb der Sammlung Evert wiederum gehörte „Erzählung“ zu einer Sammelmappe (bestehend aus zwei Einzelmappen) mit Arbeiten auf Papier, die im Inventar mit der Nummer 879/45 erfasst ist.Q1 Sie enthielt Arbeiten der 1910er- bis 1950er-Jahre: zwei druckgraphische Mappen von Hans Arp und Willi Baumeister, 14 Zeichnungen (von Richard Haizmann, Werner Heldt, [?] Künkel, Hans Leistikow und Georg Muche) sowie 57 druckgraphische Blätter (von Ernst Barlach, Willi Baumeister, Alexander Camaro, Lovis Corinth, Ernst Fritsch, Frans Haacken, Hans Hartung, Erich Heckel, Werner Heldt, Heinrich Ilgenfritz, Alfred Kubin, Georg Muche, Otto Mueller, Hans Orlowski, Robert Pudlich, Gustav Seitz, Horst Strempel, Mac Zimmermann und sieben Blatt „unbekannter Künstler“).

Die Identifizierung der Werke aus der Sammelmappe Evert und ihres Verbleibs ist nicht leicht, denn weder im Inventar noch in den Schenkungsunterlagen sind die darin enthaltenen Arbeiten mit Titeln aufgeführt, und auch ein Vermerk über den Verbleib fehlt. Die Zuordnung war in einigen Fällen jedoch über andere Quellen möglich, hier das Übergabeprotokoll vom Land Berlin an das Kupferstichkabinett von 1968 Q2 und das Werkverzeichnis.L1 Diese Quellen belegen, dass die Sammelmappe spätestens zur Umverteilung der Bestände 1968 in Einzelblätter aufgelöst wurde; einzelne Blätter scheinen schon 1966/67 extrahiert und mit einer zusätzlichen Inventarnummer versehen worden zu sein. Mehrere Zeichnungen gelangten in die Sammlung der Zeichnungen an der Nationalgalerie, mindestens zwanzig Graphiken an das Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin. Identität oder Verbleib der restlichen Blätter, darunter neun Graphiken von Heinrich Ilgenfritz, sind heute nicht mehr nachweisbar.

Die Galerie des 20. Jahrhunderts besaß elf Gemälde, Zeichnungen und Druckgraphiken der 1910er- bis 1930er-Jahre von Georg Muche. Neun dieser Werke stammen aus der Sammlung Evert. Heinrich Evert (Hannover 1879–1955 Berlin) sammelte in den 1920er- bis 1950er-Jahren Werke deutscher Künstler der Moderne. Ausgebildet an der hannoverschen Kunstgewerbeschule und der Baugewerkschule in Buxtehude sowie den Technischen Hochschulen in Berlin und Hannover hatte er seine Laufbahn im öffentlichen Dienst 1905 als Abteilungsleiter der Hochbauabteilung beim Stadtbauamt Jena begonnen. 1910 wurde er zum Stadtbaurat in Jauer (Jawor, heute Polen) berufen, wo er von 1927 bis 1934 auch das Amt des Bürgermeisters bekleidete. In seiner Zeit dort setzte Evert sich vor allem für kulturelle und soziale Belange ein und wirkte am modernen Siedlungsbau mit. Nach Januar 1933 geriet er „als Nichtparteigenosse und Freimaurer“, wie er sich selbst bezeichnete,Q7 ins Visier der NSDAP; im Oktober 1934 legte er sein Amt in Jauer nieder und siedelte nach Berlin um. Hier war er von 1936 bis 1945 als kommunaler Berater der Wehrkreisverwaltung III tätig und wurde 1946 zum Bezirksrat und Leiter der Abteilung für Bau- und Wohnungswesen im Bezirksamt Berlin-Wilmersdorf berufen. Ab 1951 wirkte Evert als Bezirksstadtrat. Bis zu seinem Tod 1955 wohnte er in der Rudolstädter Strase 100 in Wilmersdorf.

Seine Leidenschaft für aktuelle Kunst ließ Heinrich Evert den Kontakt zu Künstlern seiner Zeit suchen. Durch die Nähe der Stadt Jauer zu Breslau hatte er eine besondere Verbindung zur Breslauer Akademie: Zahlreiche dort tätige Kunstschaffende, darunter Oskar Moll und Georg Muche, waren – oft mit mehreren Werken – in seiner Sammlung vertreten. Hinzu kamen Arbeiten von Kurt Schwitters, Otto Mueller, Alexander Camaro, Karl Schmidt-Rottluff, Werner Heldt und zahlreichen anderen, mit denen den Sammler vielfach eine oft langjährige Freundschaft verband. Die Werke für seine Sammlung erwarb Heinrich Evert zum grösten Teil direkt bei den Künstlern.

Auch Adolf Jannasch kannte Evert persönlich, wie der Eintrag in Jannaschs Sammler-Notizbuch belegt: „Evert / ‚Bauen und Wohnen‘ / Schwitters, Heldt, Moderne, Müller, Muche, Camaro“.Q6 Diese Bekanntschaft mag Everts Beschluss, der Galerie seine Sammlung anzuvertrauen, bekräftigt haben. So legte der kinderlose Baurat testamentarisch fest: „Ich setze als Erben meiner gesamten Kunstgegenstände (Gemälde, Graphiken, Plastiken, Sammelmappen, kunstgewerbliche Gegenstände und einschlägige Literatur) das Land Berlin ein. Für die Betreuung dieser Kunstwerke soll die Galerie des XX. Jahrhunderts zuständig sein.“Q8 Diesem Wunsch folgend, hinterlies seine Witwe Gertrud Evert, geborene Fangauf, mit ihrem Tod 1966 dem Land Berlin 117 Gemälde, Zeichnungen und graphische Blätter.Q5 Vereinzelte Werke scheint Heinrich Evert auch dem Stadtmuseum Berlin vermacht zu haben.

Mit Georg Muche pflegten Heinrich und Gertrud Evert lange Jahre eine persönliche Bekanntschaft. In einer Akte zu Muche aus dem Otto-Nagel-Haus in Berlin (Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, ONH 123) finden sich Kopien kleiner Kontaktabzüge, offensichtlich aus einem Fotoalbum Muches. Die Fotografien tragen die von Muche handschriftlich notierte Überschrift „In Jauer, Sammler Ebert [sic]“, und dokumentieren einen (vielleicht ersten) Besuch in Everts Familienhaus mit Garten. In der 1961 publizierten Autobiografie Muches wird Evert im Kapitel „Der größte Sammler“ beschrieben: „Mein Freund Heinrich Evert, der Bürgermeister in einer stillen schlesischen Stadt war, kaufte dann und wann ein Bild, weil er eine große Liebe zu dem geheimnisvollen Leben hatte, das sich in Bildern offenbart. Er sah in ihnen das Gleichnis einer geistigen Ordnung, und jedes Bild in seiner Sammlung war für ihn ein Zeichen der Begegnung mit einem der seltsamen Menschen, die Bilder malen“.L3 Im Berliner Bauhaus-Archiv sowie im Deutschen Kunstarchiv in Nürnberg hat sich Korrespondenz zwischen den Eheleuten Evert und Muche erhalten. Zu Kriegszeiten verfasste Muche gar ein Testament, in dem er das kinderlose Ehepaar Evert als Erben seines künstlerischen Nachlasses einsetzte (Deutsches Kunstarchiv Nürnberg, NL Muche, Georg, 6.9.1939). Gertrud Evert pflegte auch über den Tod ihres Gatten hinaus freundschaftlichen Briefwechsel mit Muche (vgl. Korrespondenz ebd., NL Muche, Georg, I,C-183), oft aus Anlass externer Leihanfragen von Muche-Werken aus der Sammlung Evert.

Recherche: CT | Text: CT

unten: Galerie des 20. Jahrhunderts / Stiftung Heinrich Evert / Muche, Georg
oben rechts: Evert

Q1 Inventarverzeichnis für Kunstwerke Berlins in der Nationalgalerie B 3000/306 [Inventar der Galerie des 20. Jahrhunderts (West)], 2 Bde., 1949–1982, Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten, Berlin, erworben Juni 1966

Q2 Übergabelisten Kästen Graphik an das Kupferstichkabinett, 1968, Kasten C 1, Stiftung Heinrich Evert, o. Nr., Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 11-0201-00-001 ff.

Q3 Verzeichnis der Druckgraphik Stiftung Heinrich Evert an das Kupferstichkabinett, handschriftliche Liste Adolf Jannasch, 5.6.[o. J.], Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 11-0201-0-077

Q4 Karteikarte Senat, Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten, Berlin

Q5 Erbvertrag zwischen Gertrud Evert und dem Land Berlin, 1.8.1957, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 04-0601-02-010.1 ff.

Q6 Sammler-Notizbuch Adolf Jannasch, Privatbesitz

Q7 Lebenslauf Heinrich Evert, 14.10.1945, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 02-0204-02-000

Q8 Protokoll für notarielle Beurkundungen, Amtsgericht Berlin-Charlottenburg, 1.8.1958, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 04-0601-02-000

L1 Peter H. Schiller, Georg Muche. Das druckgraphische Werk, Darmstadt und Berlin 1970, Nr. 26

L2 Horst Richter, Georg Muche, Recklinghausen 1960, S. 38

L3 Georg Muche, Blickpunkt. Sturm Dada Bauhaus Gegenwart, München 1961, S. 223 f.