Die Galerie des 20. Jahrhunderts in West-Berlin
Ein Provenienzforschungsprojekt


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Georg Muche (1895–1987)
Stillleben mit Tisch, Schale mit Eiern und Beeren, 1923

Farbradierung auf Papier
Blattmaß 25,8 x 22,8 cm

Standort
Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin

1955 erworben durch das Land Berlin
Inventarwert: 30 DM

Weitere Werkdaten

Abweichende Titel
Stilllben

Bezeichnung Vorderseite / Sichtfläche
unten links: Gmuche
unten rechts: C 20/X

Inventarnummern
Staatliche Museen zu Berlin: 862/69
Weitere Nummern: 862/28; 862/69

Werkverzeichnis-Nummer
Schiller WV 21

Foto: Büttner, Wolfram / © Bauhaus-Archiv / Museum für Gestaltung, Berlin 2016
Provenienz
bis 1955 Heinrich Evert, Berlin
1955 bis 1966 Gertrud Evert, Berlin, per Erbschaft Q3
1966 bis 1968 Galerie des 20. Jahrhunderts, Berlin, erworben von Gertrud Evert, Teil des Schenkungskonvoluts Sammlung Evert, Nr. 28 Q1
seit 1968 als Dauerleihgabe des Landes Berlin im Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
Die Farbradierung „Stillleben mit Tisch, Schale mit Eiern und Beeren“ entstand im Jahr 1923, als der seit 1920 am Bauhaus tätige Georg Muche den Ausschuss für die erste Bauhaus-Ausstellung leitete, für die das von ihm entworfene Musterhaus Am Horn in Weimar gebaut wurde. Der moderne Innenraum wird in dieser Arbeit zum Gegenstand konstruktivistischer Untersuchungen von Raum, Fläche und Farbe. Die Datierung der Graphik auf das Jahr 1923, die Peter H. Schiller im Werkverzeichnis angibt,L2 erscheint somit wesentlich plausibler als eine Datierung auf 1930/31, die andernorts auftaucht. Im Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin existieren mehrere Fassungen der Radierung, zu der sich auch eine Vorzeichnung erhalten hat (Aquarell und Bleistift, 1923, 19,6 x 20,5 cm, Privatbesitz, vgl. Magdalena Droste u. a. [Hrsg.], Georg Muche. Das künstlerische Werk 1912–1927. Kritisches Werkverzeichnis der Gemälde, Zeichnungen, Fotos und architektonischen Arbeiten, Ausst.-Kat. Bauhaus-Archiv Berlin 1980, Nr. Z 63).

Die Galerie des 20. Jahrhunderts besaß elf Gemälde, Zeichnungen und Druckgraphiken der 1910er- bis 1930er-Jahre von Georg Muche. Bis auf das Bild „Sommer“ und ein weiteres („Ohne Titel“), das sich heute im Berliner Bauhaus-Archiv befindet, stammen sie alle aus der Sammlung Heinrich Evert, die 1966 durch Vermächtnis seiner Witwe Gertrud in die Galerie gelangte.

Heinrich Evert (Hannover 1879–1955 Berlin) sammelte in den 1920er- bis 1950er-Jahren Werke deutscher Künstler der Moderne. Ausgebildet an der hannoverschen Kunstgewerbeschule und der Baugewerkschule in Buxtehude sowie den Technischen Hochschulen in Berlin und Hannover hatte er seine Laufbahn im öffentlichen Dienst 1905 als Abteilungsleiter der Hochbauabteilung beim Stadtbauamt Jena begonnen. 1910 wurde er zum Stadtbaurat in Jauer (Jawor, heute Polen) berufen, wo er von 1927 bis 1934 auch das Amt des Bürgermeisters bekleidete. In seiner Zeit dort setzte Evert sich vor allem für kulturelle und soziale Belange ein und wirkte am modernen Siedlungsbau mit. Nach Januar 1933 geriet er „als Nichtparteigenosse und Freimaurer“, wie er sich selbst bezeichnete,Q7 ins Visier der NSDAP; im Oktober 1934 legte er sein Amt in Jauer nieder und siedelte nach Berlin um. Hier war er von 1936 bis 1945 als kommunaler Berater der Wehrkreisverwaltung III tätig und wurde 1946 zum Bezirksrat und Leiter der Abteilung für Bau- und Wohnungswesen im Bezirksamt Berlin-Wilmersdorf berufen. Ab 1951 wirkte Evert als Bezirksstadtrat. Bis zu seinem Tod 1955 wohnte er in der Rudolstädter Straße 100 in Wilmersdorf.

Seine Leidenschaft für aktuelle Kunst ließ Heinrich Evert den Kontakt zu Künstlern seiner Zeit suchen. Durch die Nähe der Stadt Jauer zu Breslau hatte er eine besondere Verbindung zur Breslauer Akademie: Zahlreiche dort tätige Kunstschaffende, darunter Oskar Moll und Georg Muche, Robert Bednorz, Otto Mueller und Alexander Camaro, waren – häufig mit mehreren Werken – in seiner Sammlung vertreten. Hinzu kamen Arbeiten von Kurt Schwitters, Karl Schmidt-Rottluff, Werner Heldt und zahlreichen anderen, mit denen den Sammler vielfach eine oft langjährige Freundschaft verband. Die Werke für seine Sammlung erwarb Heinrich Evert zum größten Teil direkt bei den Künstlern.

Auch Adolf Jannasch kannte Evert persönlich, wie der Eintrag in Jannaschs Sammler-Notizbuch belegt: „Evert / ‚Bauen und Wohnen‘ / Schwitters, Heldt, Moderne, Müller, Muche, Camaro“.Q6 Diese Bekanntschaft mag Everts Beschluss, der Galerie seine Sammlung anzuvertrauen, bekräftigt haben. So legte der kinderlose Baurat testamentarisch fest: „Ich setze als Erben meiner gesamten Kunstgegenstände (Gemälde, Graphiken, Plastiken, Sammelmappen, kunstgewerbliche Gegenstände und einschlägige Literatur) das Land Berlin ein. Für die Betreuung dieser Kunstwerke soll die Galerie des XX. Jahrhunderts zuständig sein.“Q8 Diesem Wunsch folgend, hinterließ seine Witwe Gertrud Evert, geborene Fangauf, mit ihrem Tod 1966 dem Land Berlin 117 Gemälde, Zeichnungen und graphische Blätter.Q3 Vereinzelte Werke scheint Heinrich Evert auch dem Stadtmuseum Berlin vermacht zu haben.

Mit Georg Muche pflegten Heinrich und Gertrud Evert lange Jahre eine persönliche Bekanntschaft. In einer Akte zu Muche aus dem Otto-Nagel-Haus in Berlin (Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, ONH 123) finden sich Kopien kleiner Kontaktabzüge, offensichtlich aus einem Fotoalbum Muches. Die Fotografien tragen die von Muche handschriftlich notierte Überschrift „In Jauer, Sammler Ebert [sic]“, und dokumentieren einen (vielleicht ersten) Besuch in Everts Familienhaus mit Garten. In der 1961 publizierten Autobiografie Muches wird Evert im Kapitel „Der größte Sammler“ beschrieben: „Mein Freund Heinrich Evert, der Bürgermeister in einer stillen schlesischen Stadt war, kaufte dann und wann ein Bild, weil er eine große Liebe zu dem geheimnisvollen Leben hatte, das sich in Bildern offenbart. Er sah in ihnen das Gleichnis einer geistigen Ordnung, und jedes Bild in seiner Sammlung war für ihn ein Zeichen der Begegnung mit einem der seltsamen Menschen, die Bilder malen“.L3 Im Berliner Bauhaus-Archiv sowie im Deutschen Kunstarchiv in Nürnberg hat sich Korrespondenz zwischen den Eheleuten Evert und Muche erhalten. Zu Kriegszeiten verfasste Muche gar ein Testament, in dem er das kinderlose Ehepaar Evert als Erben seines künstlerischen Nachlasses einsetzte (Deutsches Kunstarchiv Nürnberg, NL Muche, Georg, 6.9.1939). Gertrud Evert pflegte auch über den Tod ihres Gatten hinaus freundschaftlichen Briefwechsel mit Muche (vgl. Korrespondenz ebd., NL Muche, Georg, I,C-183), oft aus Anlass externer Leihanfragen von Muche-Werken aus der Sammlung Evert.

Recherche: CT | Text: CT

unbezeichnet

Q1 Inventarverzeichnis für Kunstwerke Berlins in der Nationalgalerie B 3000/306 [Inventar der Galerie des 20. Jahrhunderts (West)], 2 Bde., 1949–1982, Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten, Berlin, erworben Juni 1966

Q2 Übergabelisten Kästen Graphik an das Kupferstichkabinett, 1968, Kasten C 1, S. 10, 882/69, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 11-0201-00-001 ff.

Q3 Erbvertrag zwischen Gertrud Evert und dem Land Berlin, 1.8.1957, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 04-0601-02-010.1 ff.

Q4 Verzeichnis der Druckgraphik Stiftung Heinrich Evert an das Kupferstichkabinett, handschriftliche Liste Adolf Jannasch, 5.6.[o. J.], Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 11-0201-0-077

Q5 Karteikarte Senat, Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten, Berlin

Q6 Sammler-Notizbuch Adolf Jannasch, Privatbesitz

Q7 Lebenslauf Heinrich Evert, 14.10.1945, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 02-0204-02-000

Q8 Protokoll für notarielle Beurkundungen, Amtsgericht Berlin-Charlottenburg, 1.8.1958, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 04-0601-02-000

L1 Poelzig, Endell, Moll und die Breslauer Kunstakademie. 1911–1932, Ausst.-Kat. Akademie der Künste Berlin; Städtisches Museum Mülheim an der Ruhr; Stadthalle Darmstadt, Berlin 1965, Nr. 310, S. 102, Abb. S. 103 (als Besitzerin Gertrud Evert)

L2 Peter H. Schiller, Georg Muche. Das druckgraphische Werk, Darmstadt und Berlin 1970, Nr. 21 (Galerie des 20. Jahrhunderts nicht gesondert aufgelistet)

L3 Georg Muche, Blickpunkt. Sturm Dada Bauhaus Gegenwart, München 1961, S. 223 f.