Die Galerie des 20. Jahrhunderts in West-Berlin
Ein Provenienzforschungsprojekt


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Kurt Schwitters (1887–1948)
Deshalb (Merzbild 356), 1921

Papier auf Pappe
Bildmaß 18,00 x 14,50 cm; Blattmaß 31,7 x 24,4 cm

Standort
Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin

1966 erworben durch das Land Berlin
Inventarwert: 2.000 DM

Weitere Werkdaten

Bezeichnung Vorderseite / Sichtfläche
auf dem Original-Passepartout unten rechts: K. Schwitters 1921
unten links: Mz 356 Deshalb

Inventarnummern
Weitere Nummern: 848/14; B 848-68/31

Foto: Büttner, Wolfram
Provenienz
1930er-Jahre L3 bis 1955 Heinrich Evert, Berlin, wohl erworben vom Künstler
1955 bis 1966 Gertrud Evert, Berlin, per Erbschaft Q5
1966 bis 1968 Galerie des 20. Jahrhunderts, Berlin, erworben von Gertrud Evert, Teil des Schenkungskonvoluts Sammlung Evert, Nr. 14 Q1
1968 bis 1986 als Dauerleihgabe des Landes Berlin in der Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz (Sammlung der Zeichnungen)
seit 1986 (mit Übergabe der Sammlung der Zeichnungen) als Dauerleihgabe des Landes Berlin im Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
Der Hannoveraner Kurt Schwitters hatte das Wort „Merz“ (ein Zufallsfragment aus einer Collage mit dem Schriftzug „Kommerz“) um 1920 als Synonym für die Kunstbewegung Dada aus der Taufe gehoben. Seine Gemälde und Collagen der 1920er-Jahre verzeichnete er auch als „Merzbilder“. Zwei solcher Merz-Collagen aus Papier (Inv.-Nr. 848/14 und 850/16) fanden sich in der Sammlung der Galerie des 20. Jahrhunderts, wohin sie 1966 zusammen mit drei weiteren Werken Schwitters‘ aus dem Vermächtnis von Heinrich Evert gelangt waren.

Heinrich Evert (Hannover 1879–1955 Berlin) sammelte in den 1920er- bis 1950er-Jahren Werke deutscher Künstler der Moderne, neben denen von Schwitters vor allem von Oskar Moll und Georg Muche sowie Otto Mueller, Alexander Camaro, Karl Schmidt-Rottluff, Werner Heldt und zahlreichen anderen. Ausgebildet an der hannoverschen Kunstgewerbeschule und der Baugewerkschule in Buxtehude sowie den Technischen Hochschulen in Berlin und Hannover hatte Evert seine Laufbahn im öffentlichen Dienst 1905 als Abteilungsleiter der Hochbauabteilung beim Stadtbauamt Jena begonnen. 1910 wurde er zum Stadtbaurat in Jauer berufen, wo er von 1927 bis 1934 auch das Amt des Bürgermeisters bekleidete. In seiner Zeit dort setzte Evert sich vor allem für kulturelle und soziale Belange ein und wirkte am modernen Siedlungsbau mit. Nach Januar 1933 geriet er „als Nichtparteigenosse und Freimaurer“, wie er sich selbst bezeichnete,Q8 ins Visier der NSDAP; im Oktober 1934 legte er sein Amt in Jauer nieder und siedelte nach Berlin um. Hier war er von 1936 bis 1945 als kommunaler Berater der Wehrkreisverwaltung III tätig und wurde 1946 zum Bezirksrat und Leiter der Abteilung für Bau- und Wohnungswesen im Bezirksamt Berlin-Wilmersdorf berufen. Ab 1951 wirkte Evert als Bezirksstadtrat. Bis zu seinem Tod 1955 wohnte er in der Rudolstädter Straße 100 in Wilmersdorf.

Dass Adolf Jannasch, Leiter der Galerie des 20. Jahrhunderts, Evert persönlich kannte, zeigt der Eintrag in seinem Sammler-Notizbuch: „Evert / ‚Bauen und Wohnen‘ / Schwitters, Heldt, Moderne, Müller, Muche, Camaro“.Q7 Diese Bekanntschaft mag Everts Beschluss, der Galerie seine Sammlung anzuvertrauen, bekräftigt haben. So legte der kinderlose Baurat testamentarisch fest: „Ich setze als Erben meiner gesamten Kunstgegenstände (Gemälde, Graphiken, Plastiken, Sammelmappen, kunstgewerbliche Gegenstände und einschlägige Literatur) das Land Berlin ein. Für die Betreuung dieser Kunstwerke soll die Galerie des XX. Jahrhunderts zuständig sein“.Q11 Diesem Wunsch folgend, hinterließ seine Witwe Gertrud Evert, geborene Fangauf, mit ihrem Tod 1966 dem Land Berlin 117 Gemälde, Zeichnungen und graphische Blätter.Q5 Vereinzelte Werke scheint Heinrich Evert auch dem Stadtmuseum Berlin vermacht zu haben.

Die Werke für seine Sammlung erwarb Heinrich Evert zum größten Teil direkt bei den Künstlern; mit vielen war er persönlich bekannt oder freundschaftlich verbunden. Einer seiner ersten engen Künstlerfreunde war Kurt Schwitters, der, wie er selbst, aus Hannover kam. 1948 verstarb Schwitters im englischen Exil. Am 25. Januar 1953 bekannte Evert in einem Brief an Georg Muche: „Du weißt ja, dass Kurt Schwitters eine alte Liebe von mir ist, der ich bis an mein Lebensende treu bleiben werde.“Q9 Eine Anfrage des Kunsthändlers Ferdinand Möller, ob er Arbeiten von Schwitters zu verkaufen habe, schlug Evert im selben Monat mit ähnlichen Worten aus: „Es ist eine Genugtuung zu hören, dass Schwitters (eine meiner ‚Jugendlieben‘) nicht ganz in Vergessenheit geraten ist. Was Ihre Anfrage betrifft […] muss ich Sie leider enttäuschen. Mit diesen Bildern verbinde ich so viele liebe, persönliche Erinnerungen an Kurt Schwitters, dass ich mich nicht von ihnen trennen will.“Q10 Dass die persönliche Bekanntschaft zwischen Schwitters und Evert schon Ende der 1920er-Jahre bestand, belegt ein Brief des Künstlers an Katherine Dreier vom Januar 1927: „Dann habe ich allein eine Reise von 4 Wochen nach Berlin und Dresden gemacht. Habe etwas verdient, aber leider nicht genug. Aber man hilft sich so durch. In Dresden habe ich für Frau Bienert einige Räume gestalten helfen und ihr zwei Merzzeichnungen verkauft. Ich habe überhaupt mehrere neue Arbeiten verkauft, an Kirchhoff, Jaffee (Hamburg) und Baurat Evert in Jauer in Oberschlesien. Evert hat 2 große Bilder gekauft.“L4

Das stetige Anwachsen der Schwitters-Sammlung Everts um 1930 beschrieb Muche 1961 mit warmen Worten: „Mein Freund Heinrich Evert, der Bürgermeister in einer stillen schlesischen Stadt war, kaufte dann und wann ein Bild, weil er eine große Liebe zu dem geheimnisvollen Leben hatte, das sich in Bildern offenbart. Er sah in ihnen das Gleichnis einer geistigen Ordnung, und jedes Bild in seiner Sammlung war für ihn ein Zeichen der Begegnung mit einem der seltsamen Menschen, die Bilder malen. Auch Kurt Schwitters hatte ihm seine Freundschaft geschenkt. […] Evert kaufte [1930 ein Werk von Schwitters] – und später wieder einmal ein Blatt – und dann noch eins – und dann ein Bild. Da schrieb ihm Schwitters auf einer Postkarte: ‚Nun sind Sie mein größter Sammler.‘“L3 Es ist sehr wahrscheinlich, dass es sich bei den erwähnten frühen Ankäufen von Papierarbeiten um die beiden Merz-Bilder in der Sammlung der Galerie des 20. Jahrhunderts handelt.

Recherche: CT | Text: CT

mit Zeitungspapier verklebt

Q1 Inventarverzeichnis für Kunstwerke Berlins in der Nationalgalerie B 3000/306 [Inventar der Galerie des 20. Jahrhunderts (West)], 2 Bde., 1949–1982, Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten, Berlin, erworben Juni 1966

Q2 Liste der Zeichnungen und Aquarelle aus der ehemaligen Galerie des 20. Jahrhunderts, die 1986 aus dem Bestand der Neuen Nationalgalerie (Sammlung der Zeichnungen) an das Kupferstichkabinett (West) übergeben wurden, o. D., Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, B 848-68/31

Q3 Karteikarte Sammlung der Zeichnungen (West), Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett, B 848-68/31

Q4 Liste der Kunstwerke, die am 6.6.1968 aus dem Depot der Galerie des 20. Jahrhunderts an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz übergeben wurden, o. D., Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, Bl. 1 (Depot A)

Q5 Erbvertrag zwischen Gertrud Evert und dem Land Berlin, 1.8.1957, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 04-0601-02-010.1 ff.

Q6 Bestandsliste Sammlung der Zeichnungen, 1985/86, Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie

Q7 Sammler-Notizbuch Adolf Jannasch, Privatbesitz

Q8 Lebenslauf Heinrich Evert, 14.10.1945, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 02-0204-02-000

Q9 Brief Heinrich Evert an Georg Muche, 25.1.1953, Deutsches Kunstarchiv Nürnberg, NL Muche, Georg I,C-183

Q10 Brief Heinrich Evert an Ferdinand Möller, 29.1.1953, Archiv Berlinische Galerie, DE BG-GFM-MF 5317, 155

Q11 Protokoll für notarielle Beurkundungen, Amtsgericht Berlin-Charlottenburg, 1.8.1958, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 04-0601-02-000

L1 Verzeichnis der Vereinigten Kunstsammlungen: Nationalgalerie (Preußischer Kulturbesitz) und Galerie des 20. Jahrhunderts (Land Berlin), hrsg. von den Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz, Berlin 1968, S. 192

L2 Karin Orchard und Isabel Schulz, Kurt Schwitters. Catalogue raisonné, Hannover 2003, Nr. 896

L3 Georg Muche, Blickpunkt. Sturm Dada Bauhaus Gegenwart, München 1961, Kapitel „Der größte Sammler“, Bild vor S. 177, Text S. 180 f.

L4 Brief Kurt Schwitters an Katherine S. Dreier, 29.1.1927, abgedruckt in: Ernst Nündel (Hrsg.), Kurt Schwitters. Wir spielen bis der Tod uns abholt, Frankfurt am Main u. a. 1974, S. 111 f.