Die Galerie des 20. Jahrhunderts in West-Berlin
Ein Provenienzforschungsprojekt


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Pablo Picasso (1881–1973)
Porträt eines bärtigen Mannes, Studie, 1906/07

Aquarell und Tusche auf Papier
Blattmaß 63,4 x 47,9 cm

Standort
Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin

1950 erworben durch das Land Berlin

Weitere Werkdaten

Abweichende Titel
Männerkopf; Männlicher Kopf

Bezeichnung Vorderseite / Sichtfläche
unten rechts: Picasso

Inventarnummern
Weitere Nummern: 9/20

Werkverzeichnis-Nummer
Zervos WV 449

Foto: Atelier Schneider / © Succession Picasso / VG Bild-Kunst, Bonn 2016
Provenienz
vor 1936 Galerie Flechtheim L1 L2 L3 L4
1950 Galerie Rudolf Springer, Berlin Q11
1950 bis 1968 Galerie des 20. Jahrhunderts, Berlin, erworben bei der Galerie Springer Q1 Q10 Q7
1968 bis 1986 als Dauerleihgabe des Landes Berlin in der Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz (Sammlung der Zeichnungen)
seit 1986 (mit Übergabe der Sammlung der Zeichnungen) als Dauerleihgabe des Landes Berlin im Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
Im Juni 1950, in der Frühphase der Galerie des 20. Jahrhunderts nach ihrer Neugründung in West-Berlin, erwarb Direktor Adolf Jannasch eine Tuschezeichnung von Pablo Picasso bei der Galerie Rudolf Springer in Berlin.Q10 Q1 Q11 Es handelt sich um eine in Pinsel und Tusche ausgeführte Arbeit (nicht um eine Federzeichnung, wie von Jannasch zunächst fälschlich identifiziert),L1 die den Kopf eines bärtigen Mannes im Profil darstellt – ein Motiv, das in verschiedenen Schaffensphasen Picassos in zahlreichen Variationen vorkommt. In den vier Katalogen der Galerie des 20. Jahrhunderts gibt Jannasch zur Provenienz an: „Früher Galerie Flechtheim“.L1 L2 L3 L4 Weder die erhaltene Korrespondenz zum Ankauf oder andere Unterlagen der Galerie des 20. Jahrhunderts noch die wenigen erhaltenen Akten der Galerie Springer oder die breitgefächerte Picasso-Forschung konnten diese Angabe bislang jedoch belegen oder die große Lücke in der Provenienz schließen. Im Begleitbrief zur Übersendung des Werkes am 20. Juni 1950 schrieb Springer ohne weitere Ausführungen an Jannasch: „Hier ist die Pinselzeichnung von Picasso ‚Männlicher Kopf‘, deren Ankauf die Kommission des Magistrats wohl schon im Januar zugestimmt hatte. DM 1.500.–.“Q11 Aus der weiteren Korrespondenz Q12 geht hervor, dass Jannasch nach Ankauf der Zeichnung direkten Kontakt zu Picasso aufnahm, um die Datierung des Blattes verifizieren zu lassen.Q11 Möglich ist, dass Jannasch den Verweis auf Alfred Flechtheim – einen der bekanntesten Kunstkenner der französischen und deutschen Moderne seiner Zeit – bei Ankauf der Zeichnung von Springer mündlich erhielt und die Information dem Katalogeintrag im Sinne einer Qualitätsauszeichnung zufügte. Ob Picasso selbst neben der Datierung auch die Provenienz Flechtheim bestätigte, ist nicht dokumentiert.

Rudolf Springer (1909–2009) gehörte zu den wenigen Galeristen, die bereits in der direkten Nachkriegsphase in Berlin aktiv waren. Er hatte 1947/48 in der Galerie von Gerd Rosen gearbeitet, zuletzt als Geschäftsführer, und sich nach Rosens Zerwürfnis mit seinen Künstlern 1948 als Kunsthändler in Berlin selbstständig gemacht. Jannasch kaufte mehrere Werke für die Galerie des 20. Jahrhunderts (West) bei ihm. Springer unterhielt intensive Verbindungen nach Frankreich: Als gelernter technischer Kaufmann hatte er von 1932 bis 1934 bei Siemens in Paris gearbeitet, seinen Kriegsdienst zuletzt in Frankreich abgeleistet und war bis 1948 mit der Französin Suzanne Mahenc liiert. Er reiste auch in den späteren 1940er-Jahren (als es für andere noch schwer war, Visa zu bekommen) regelmäßig zwischen Berlin und Paris hin und her und pflegte sehr gute Kontakte zu französischen Künstlern und anderen Kulturschaffenden: „Ich hatte damals glänzende Verbindungen zu allen möglichen bekannten Leuten in Paris“ (Rudolf Springer. Marchand d’art, né 1909 [Rudolf Springer im Interview mit Claus-Dieter Fröhlich], Publikation Contemporary Fine Arts, Berlin 2007, S. 8) – darunter Henri Laurens, Hans Arp, Joan Miró, Jean Cocteau und André Breton. Auch Werke der klassischen Moderne kamen – wie die Provenienz der ebenfalls bei Springer erworbenen Büste Wilhelm Lehmbrucks in der Galerie des 20. Jahrhunderts (Inv.-Nr. 131) zeigt – aus Frankreich in den Handelsbestand von Springers Galerie, wobei die Forschung bislang keine Details aufdecken konnte. Sein guter Kontakt zu dem Stadtkommandanten Frankreichs in Berlin, dem Chef der französischen Besatzungstruppen, ermöglichte es Springer, von 1950 bis Anfang 1953 im neu errichteten Berliner Maison de France zu wohnen, wo er auch einen eigenen Galerieraum betrieb. Seit 1950 lag der Schwerpunkt der Galerie Springer noch stärker auf französischer Kunst. Eine direkte Verbindung zu Picasso ist allerdings nicht nachweisbar: Springer hat nie eine Picasso-Ausstellung veranstaltet oder im größeren Maße mit seiner Kunst gehandelt, auch erwähnte er den Künstler nicht explizit als persönliche Bekanntschaft. Aus welcher Quelle er die von Jannasch erworbene Zeichnung „Männerkopf“ bezog, bleibt ungeklärt.

Die Provenienzrecherchen zu Picassos Tuschezeichnung „Männerkopf“, auch „Porträt eines bärtigen Mannes“ genannt, verfolgten aufgrund der Angabe durch Jannasch intensiv die Klärung der Frage, ob und wenn ja an welcher Stelle sich das Blatt in der verschlungenen Biografie Alfred Flechtheims – der eine Schlüsselfigur des modernen Kunsthandels in Deutschland darstellte – verorten lässt. Geprüft wurde auch die Möglichkeit, dass das Werk zu seiner Privatsammlung gehört haben könnte – denn obgleich die Katalogangabe „Früher Galerie Flechtheim“L1 eher darauf hindeutet, dass die Zeichnung zur Handelsware gehörte, vermischte sich die Kunst in Flechtheims privatem und gehandeltem Besitz oft. Leider liefern die Akten jedoch an keinem Punkt einen konkreten Nachweis, sodass letztlich ungeklärt bleibt, ob sich das Werk jemals im Besitz von Flechtheim befand und ob die Aussage von Jannasch zutreffend ist. Die schwer greifbare Werkidentität ist ein hindernder Faktor bei den Recherchen. Allein in den Jahren 1905 bis 1909 produzierte Picasso mindestens 25 Zeichnungen von Männerköpfen.L5 L6 L7 L8 Zudem besaß Flechtheim mehrere Werke Picassos mit demselben Titel, wie beispielsweise einen in Bleistift gezeichneten „Männerkopf“ aus dem Jahr 1912, der im Picasso-Werkverzeichnis von Christian Zervos unter der Nummer 325 mit der Provenienz „früher Sammlung Flechtheim“ verzeichnet ist.L5 Keines davon lässt sich jedoch als die 1906/07 entstandene Zeichnung aus dem Bestand der Galerie des 20. Jahrhunderts identifizieren. Es ist in der Flechtheim-Literatur hinreichend belegt, dass er nicht nur eine Anzahl von Picasso-Zeichnungen zu seiner Privatsammlung zählte, sondern seit den 1920er-Jahren auch über große Konvolute an Picasso-Zeichnungen als Galerieware verfügte, die er regelmäßig auf Ausstellungen zeigte.

Weitere Zeichnungen Picassos desselben Motivs, die bei Flechtheim aufscheinen, scheiden aufgrund nicht übereinstimmender Datierungen oder Maßangaben aus, seien hier aber der Vollständigkeit halber erwähnt: Im Oktober/November 1927 zeigte Flechtheim in seiner Berliner Galerie eine Ausstellung von Papierarbeiten Picassos aus 25 Jahren. Im zugehörigen Katalog sind folgende zwei Zeichnungen aufgeführt: „Kat. Nr. 60 Männerkopf 1905 (verkäufl.)“ und „Kat. Nr. 68 Männerkopf 1905/06“, letztere nicht als verkäuflich markiert (vgl. Pablo Picasso. Zeichnungen, Aquarelle, Pastelle 1902–1927, Ausst.-Kat. Galerie Flechtheim Berlin 1927). Da Abbildungen und Maßangaben fehlen und die Datierungen nicht mit jener des Blatts aus der Galerie des 20. Jahrhunderts identisch sind, ist eine Zuordnung aber nicht möglich. Auch die Archivalien zu einer Picasso-Ausstellung im Kunsthaus Zürich 1932, einer der wichtigsten und umfassendsten Picasso-Retrospektiven ihrer Zeit, liefern keinen Beleg. Der Züricher Katalog identifiziert eine Zeichnung mit dem Titel „Männerkopf“ aus Flechtheim-Besitz (Nr. 288, „Tusch / 46,5 x 64 / 1911 / Herr Alfred Flechtheim, Berlin“), die aufgrund abweichender Maße und Datierung ausscheidet (vgl. Picasso, Ausst.-Kat. Kunsthaus Zürich 1932, S. 19). Eine Auflistung möglicher Leihgaben, die Flechtheim einem Schreiben an den Züricher Direktor Wilhelm Wartmann vom 4. November 1932 unter der Überschrift „Liste der Picassos der Galerie Flechtheim“ beifügte, zitiert das aus der Berliner Filiale stammende Werk als „Nr. 20 Tête d’homme, Kohle 1911 (65 x 47,5 cm) 2.000,- unverkäufl.“ (vgl. Archiv Kunsthaus Zürich, Korrespondenz 1932, 10.30.30.61), weicht also zusätzlich in der Technikangabe ab. Da bei Picasso zwischen 1906 und 1911 ein massiver stilistischer Sprung von einem Realismus mit weicher Linienführung zum scharfkantigen Kubismus stattfand, wird keinem Kenner seines Werks hier eine Fehldatierung unterlaufen sein.

Zuletzt präsentierte Flechtheim nach seiner Emigration 26 dieser Arbeiten in der Londoner Mayor Gallery im Jahr 1934 (vgl. Pablo Picasso. Drawings 1900–1934, Ausst.-Kat. Mayor Gallery London 1934), von denen offenbar nur einige wenige verkauft wurden.L9 L10 L11 Im Zuge der Revision der kahnweilerschen Kommissionsware im Januar 1935 gingen dann acht Picasso-Zeichnungen zum Schuldenausgleich an Kahnweiler in Paris – unser Blatt war jedoch nicht darunter (vgl. S. 353).L9 Das Gros der von Kahnweiler in Kommission genommenen Werke hatte Flechtheim bereits im September 1933 aus Düsseldorf und Berlin nach Paris zurückschicken lassen – nicht auszuschließen ist, dass auch darunter Picasso-Zeichnungen waren, die über den französischen Kunstmarkt den Weg zurück nach Deutschland fanden. Ebenso ist möglich, dass nach den Verschickungen eine Anzahl von Picasso-Blättern aus Flechtheims Bestand in Berlin blieb oder von Vömel in Düsseldorf übernommen wurde. Wenngleich „Männerkopf“ für die Galerie des 20. Jahrhunderts bei Springer in Berlin erworben wurde, kann man aufgrund fehlender Informationen zu Vorbesitzern nicht zwingend davon ausgehen, dass seine Provenienz nicht auch außerdeutsche Wege einschließt.

Recherche: CT | Text: CT

unbezeichnet

Q1 Inventarverzeichnis für Kunstwerke Berlins in der Nationalgalerie B 3000/306 [Inventar der Galerie des 20. Jahrhunderts (West)], 2 Bde., 1949–1982, Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten, Berlin, Eintrag vom 21.6.1950

Q2 Liste der Zeichnungen und Aquarelle aus der ehemaligen Galerie des 20. Jahrhunderts, die 1986 aus dem Bestand der Neuen Nationalgalerie (Sammlung der Zeichnungen) an das Kupferstichkabinett (West) übergeben wurden, o. D., Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, B o. Nr.

Q3 Karteikarte Sammlung der Zeichnungen (West), Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett

Q4 Liste der Zeichnungen und Aquarelle, die am 5.6.1968 aus dem Bestand der Galerie des 20. Jahrhunderts an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz übergeben wurden, o. D., Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, 9/20

Q5 Protokoll der Übergabe der Bestände der Galerie des 20. Jahrhunderts an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz [Gemälde und Skulpturen aus den Verwaltungs- und Ausstellungsräumen der Galerie], 5.6.1968, Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, S. 2

Q6 Liste Platten – Kasten III, Galerie M–R, Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, Ordner B: Vereinigte Kunstsammlungen

Q7 Ankaufsbestätigung Adolf Jannasch an Galerie Springer, 20.1.1950, Landesarchiv Berlin, B Rep. 014-1445

Q8 Liste Platten – Kasten I, Galerie A–K, 25.7.1957, Berlinische Galerie, DE BG Gal 02-0204-02-040.1 bis -040.3, Nr. 61

Q9 Bestandsliste Sammlung der Zeichnungen, 1985/86, Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie

Q10 Zahlungsanweisung an Rudolf Springer, 21.6.1950, Landesarchiv Berlin, B Rep. 014-1446

Q11 Brief Rudolf Springer an Adolf Jannasch, 20.6.1950, Landesarchiv Berlin, B Rep. 014-1628

Q12 Ankaufskorrespondenz, Juni 1950, Landesarchiv Berlin, B Rep. 014-1628

L1 Die Galerie des 20. Jahrhunderts. Katalog, hrsg. vom Senator für Volksbildung, Berlin 1953, Nr. 62 („Männerkopf, 1907, Federzeichnung, 62 x 46 cm / […] Früher Galerie Flechtheim / Erworben 1950“)

L2 Die Galerie des 20. Jahrhunderts. Katalog, hrsg. vom Senator für Volksbildung, Berlin 1958, Nr. 147 („Männerkopf, 1907, Pinselzeichnung, 62 x 46 cm / […] Nach Angabe des Künstlers 1907 entstanden / Früher Galerie Flechtheim / Erworben 1950“)

L3 Die Galerie des 20. Jahrhunderts. Katalog, hrsg. vom Senator für Volksbildung, Berlin 1960, Nr. 160 („Männerkopf, 1907, Pinselzeichnung, 62 x 46 cm / […] Nach Angabe des Künstlers 1907 entstanden / Früher Galerie Flechtheim / Erworben 1950“)

L4 Die Galerie des 20. Jahrhunderts. Katalog, hrsg. vom Senator für Volksbildung, Berlin 1963, Nr. 187 („Männerkopf, 1907, Pinselzeichnung, 62 x 46 cm / […] Nach Angabe des Künstlers 1907 entstanden / Früher Galerie Flechtheim / erworben 1950“)

L5 Christian Zervos, Pablo Picasso. Supplément aux années 1900–1930, Paris 1970, Bd. 22, Nr. 449 (ohne Provenienzangabe)

L6 Josep Palau i Fabre, Picasso Vivo (1881–1907), Barcelona 1980, Nr. 1512 („busto de hombre de perfil“, ohne Besitzernennung, ohne Provenienzangabe)

L7 Online Picasso Project, https://picasso.shsu.edu, Nr. OPP.06:230 (letzter Zugang 12.1.2016)

L8 Pierre Daix und Georges Boudaille, Picasso 1900–1906. Catálogo razonado, Barcelona 1967, DXVI, Nr. 19

L9 Ottfried Dascher, „Es ist was Wahnsinniges mit der Kunst“. Alfred Flechtheim, Sammler, Kunsthändler, Verleger, Wädenswil 2011

L10 Ottfried Dascher, Flechtheim in London (1933–1937), in: Andrea Bambi und Axel Drecoll (Hrsg.), Alfred Flechtheim. Raubkunst und Restitution, Berlin und Boston 2015, S. 129–141

L11 Gesa Jeuthe, Die Galerie Alex Vömel ab 1933. Eine „Tarnung“ der Galerie Alfred Flechtheim?, in: Andrea Bambi und Axel Drecoll (Hrsg.), Alfred Flechtheim. Raubkunst und Restitution, Berlin und Boston 2015, S. 107–115

L12 Roswitha Neu-Kock, Alexander Vömel. Die Jahre der Zusammenarbeit mit Alfred Flechtheim bis 1933, in: Andrea Bambi und Axel Drecoll (Hrsg.), Alfred Flechtheim. Raubkunst und Restitution, Berlin und Boston 2015, S. 101–105

L13 Andrea Bambi, „Marchand Amateur“. Auf der Suche nach der privaten Sammlung Alfred Flechtheims, in: dies. und Axel Drecoll (Hrsg.), Alfred Flechtheim. Raubkunst und Restitution, Berlin und Boston 2015, S. 71–82

L14 Axel Drecoll, Fragen, Probleme, Perspektiven. Zur „Arisierung“ der Kunsthandlung Alfred Flechtheim, in: Andrea Bambi und ders. (Hrsg.), Alfred Flechtheim. Raubkunst und Restitution, Berlin und Boston 2015, S. 83–100

L15 www.alfredflechtheim.com (letzter Zugang 12.1.2016)